Covid-19: Essstörungen bei Jugendlichen

August 2021

Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen haben im Rahmen der Covid-19-Pandemie stark zugenommen. Die Betroffenen suchen später Hilfe und kommen in schlechterer Verfassung; die therapeutischen Angebote wurden aufgrund der Virusschutzmaßnahmen reduziert. Zur Vermeidung von Langzeitfolgen braucht es mehr ambulante und stationäre Behandlung und Prävention auf allen Ebenen.

Essgestörtes Verhalten hat im vergangenen Jahr in allen Altersgruppen zugenommen, wobei Jugendliche besonders betroffen sind, berichtet Univ.-Prof. Barbara Juen, Professorin für Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie und Psychotraumatologie am Institut für Psychologie, Universität Innsbruck, und fachliche Leiterin der psychosozialen Dienste beim Österreichischen Roten Kreuz. Welche Auswirkungen haben die Covid-19-Maßnahmen auf die Entwicklung von Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen? Wie beeinflussen sie ambulante und stationäre Behandlung der jugendlichen Patienten? Was braucht es, um pandemiebedingte Langzeitfolgen zu vermeiden?

Viele Essstörungen, wenige Zahlen

Als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) ist Univ.-Prof. Kathrin Sevecke, Direktorin der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter Innsbruck und Landeskrankenhaus Hall, im regen Austausch mit den anderen Bundesländern und Nachbarländern wie Deutschland, Schweiz und Südtirol. Sie alle berichten von einer deutlichen Zunahme von Essstörungen im Zug der Covid-19-Pandemie.

Konkrete Zahlen gibt es allerdings nicht. Oder fast nicht: Eine Studie der Donau-Universität Krems, die Anfang des Jahres gemeinsam mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien durchgeführt wurde, hat die psychischen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf österreichische Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jahren untersucht (Pieh C et al. 2021). Sie zeigt, dass fast zwei Drittel (64 %) der 3.052 Teilnehmer Symptome von Essstörungen aufweisen: 722 weibliche, 417 männliche und 21 Personen mit diversem Geschlecht.

Starker Zulauf bei Essstörungsambulanzen

Diese Entwicklung wird auch an den Kinder- und Jugendpsychiatrien registriert. Die Frequentierung der Kliniken hat seit dem ersten Covid-19-Lockdown deutlich zugenommen. „Unsere Warteliste für einen stationären Therapieplatz ist mindestens doppelt so lang wie vor der Corona-Pandemie“, sagt Sevecke. Dabei hält der schon vorher sichtbare Trend zu einer immer früheren Manifestation von Essstörungen weiter an. Erkrankten Jugendliche vor etwa zehn Jahren im Alter von 16 oder 17 an Bulimie bzw. 14 oder 15 an Anorexie, so sind heute vor allem Mädchen vermehrt noch früher betroffen. Patienten (bzw. deren Eltern), die vor der Pandemie in Behandlung gewesen waren, hätten sich wegen eines Rückfalls wieder vermehrt direkt an die Klinik gewendet.

Mag. Dr. Michael Zeiler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Essstörungsambulanz der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Medizinische Universität Wien, bestätigt: „Um den Jahreswechsel 2020/2021 gab es einen deutlichen Anstieg an Neuvorstellungen in unserer Klinik in der Altersgruppe der 13- bis 17-Jährigen. Wir sehen vor allem Jugendliche mit Anorexia nervosa. Diese Gruppe ist oftmals am schwersten von Essstörungen betroffen und kommt schneller zu uns an die Klinik.“ In der Literatur gebe es Hinweise, dass auch andere Essstörungen wie die Bulimie und die Binge-Eating-Störung ansteigen. Die Betroffenen seien allerdings meist etwas älter, weshalb sie weniger an den Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellig werden.

Späte Kontaktaufnahme, schlechte Verfassung

Die Experten beobachten seit Beginn der Pandemie bei Österreichs Jugendlichen sowohl extreme Gewichtszunahme als auch extremen Gewichtsverlust. Doch die Kontaktaufnahme durch die Betroffenen habe sich aufgrund von Covid-19 „deutlich verzögert“, berichtet Sevecke. Die Jugendlichen kämen viel zu spät an die Klinik – dies betreffe Patienten mit Anorexie ebenso wie Adipöse, wobei Letztere noch später Hilfe aufsuchen würden. Sevecke: „Die jungen Patienten kommen in extrem schlechtem Zustand zu uns – körperlich nochmals ausgezehrter und dünner als vor der Pandemie – oder eben in deutlich adipöserem Zustand.“ Zeiler gibt an, dass Jugendliche mit Anorexie in vielen Fällen bereits medizinische Komplikationen aufweisen.

Wie kann es so weit kommen? Vor der Pandemie gab es noch den täglichen direkten Kontakt mit Lehrern, Schulpsychologen und Schulärzten. Wenn diese auf Veränderungen bei Schülern aufmerksam wurden, konnten sie Eltern empfehlen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Korrektur von außen ist nun meist weggefallen. Hinzu kommt, dass Jugendliche, bei denen eine Essstörung neu auftritt, das Problem selbst nicht sehen. Zeiler: „Die Krankheitsverleugnung ist Teil der Erkrankung.“

Juen weist darauf hin, dass ein allgemeines Problem während der Pandemie ist, dass sich viele nicht in Behandlung begeben, weil sie Angst haben, sich im Krankenhaus mit SARS-CoV-2 zu infizieren. Der Bereich jugendlicher Essstörungen sei zwar weniger betroffen als zum Beispiel Krebsvorsorgeuntersuchungen bei Erwachsenen, aber trotzdem habe diese Unsicherheit vor allem zu Beginn der Pandemie eine Rolle bei der späten Kontaktaufnahme gespielt.

Priorisierung notwendig

„Wir können nicht ausreichend ambulante und stationäre Therapieplätze für unsere anorektischen Patienten anbieten“, bedauert Sevecke. Und Zeiler ergänzt: „Genügend Kapazitäten gab es schon vor der Pandemie nicht.“ Man müsse eine Priorisierung vornehmen – Sevecke spricht sogar von Triagierung. Doch jeder, der sich an eine Klinik wendet, wird versorgt: Wenn keine stationäre Aufnahme möglich ist, werden die jungen Patienten engmaschig ambulant weiterbetreut, bis ein Bett frei wird, versichern die Experten. Wenn das nicht gehe, würden sie vorübergehend an einer anderen Abteilung oder einer anderen Kinderpsychiatrie aufgenommen.

Eine Erweiterung der stationären Bettenkapazität wäre generell wünschenswert, denn „wenn jemand mit einem BMI von 12,3 zu uns kommt, muss er vielleicht 16 Kilogramm zunehmen – das dauert Monate. Deswegen sind auch die Behandlungskapazitäten entsprechend lang belegt“, betont Sevecke.

Man müsse jedoch zwischen der Anfangszeit der Pandemie und der Gegenwart unterscheiden: In den ersten Monaten, ab März 2020, wurden alle Kliniken aufgefordert, die Ambulanzkontakte strikt zu reduzieren und nur jene Jugendlichen an die Klinik zu holen, bei denen „es wirklich nicht anders geht“, berichtet Zeiler.

Wenige Kontakte, keine Ausflüge, Telemedizin

Durften stationäre Patienten vor der Pandemie täglich Besuch empfangen, so wurde dies in der Anfangsphase der Pandemie massiv eingeschränkt. Umgekehrt wurden Ausgangsbeschränkungen verhängt, sodass sozialpädagogische Ausflüge anfangs gänzlich eingestellt wurden, was laut Zeiler eine große Belastung sowohl für Kinder als auch Eltern dargestellt hat.

Ein weiteres Problem sei Sevecke zufolge gewesen, dass bei bereits zuvor erkrankten und behandelten Jugendlichen die (Psycho)Therapie aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht mehr weitergeführt werden konnte. Dafür wurde in der Anfangsphase sehr vieles auf telemedizinische Therapie umgestellt, was von Kindern und Eltern sehr unterschiedlich aufgenommen wurde.

Kaum freie ambulante Therapieplätze

„Gefühlsmäßig stark verschlechtert“ haben sich laut Zeiler die Erfolgsaussichten, ambulante Therapieplätze für die Nachbetreuung zu finden. Auch niedergelassene Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeuten hatten kaum freie Kapazitäten. Doch „wir lassen niemanden auf sich allein gestellt“, betont Zeiler. Die Jugendlichen würden so lange über die Klinik ambulant weiterbetreut, bis extern jemand gefunden wurde.

Auch Sevecke und ihr Team in Tirol verfolgen das Behandlungskonzept mit poststationärer Anbindung mit ambulanten Elterngruppen, Patientengruppen, Genussgruppen und natürlich weiterhin medizinischen Kontrollen. Nach einem Aussetzen zu Beginn der Covid-19-Pandemie gebe es die ambulanten Nachsorgegruppen nun wieder wie gewohnt.

Aber: „Was für uns an der Klinik unter den aktuellen Vorschriften noch schwierig ist, ist das Durchführen von Kochgruppen und das Verarbeiten von Lebensmitteln. Das ist schade, denn gerade bei der Behandlung einer Essstörung geht es um das gemeinsame Produzieren von Essen und Verwenden von verschiedenen Nahrungsmitteln.“ Ein wertvoller Aspekt hierbei sei, dass die Jugendlichen wieder lernen, in Gesellschaft zu essen. Das gemeinsame Essen in der Mensa oder im Restaurant, für das man sich unter andere Menschen begeben muss, ist ein wertvoller Therapiebaustein. Kochgruppe und Gaststättenbesuche könnten nicht durch Mahlzeiten in einer Klinikgemeinschaft kompensiert werden.

Die Expertin würde sich auch deutlich mehr spezialisierte Essstörungs-WGs für die Zeit nach der Behandlung wünschen. Es gibt in Österreich nicht viele davon; in Tirol überhaupt keine. Eine Essstörungs-WG wäre dem häuslichen Umfeld häufig vorzuziehen, weil es vielen Jugendlichen dort leichter fällt als zuhause, wieder normales Essen zu „implementieren“. In Essstörungs-WGs hätten die Patienten die Möglichkeit, mit speziellen therapeutischen Konzepten, durch gemeinsame Essensplanung und Mahlzeiten etc. wieder in die Normalität zurückzufinden.

Schule, Stress und Psyche

Die unterschiedlichen und wechselnden Öffnungsmodi der Schulen führen bei vielen zu zusätzlichem Stress, können aber auch positive Auswirkungen haben: „Es gibt hochstrukturierte Schüler, die damit gut zurechtkommen. Für Personen, die beispielsweise Schwierigkeiten mit der Klassengemeinschaft haben, können die Schließungen sogar förderlich sein, da sie sich nicht in soziale Konflikte begeben müssen. Auf Dauer aber kann es nicht förderlich sein, wenn soziale Kontakte und Situationen in der Schule vermieden werden“, so Sevecke. Man lege daher generell Wert darauf, einen Besuch in der Heimatschule möglich zu machen, sodass soziale Ängste und Schwierigkeiten sich nicht weiter manifestieren und chronifizieren können.

„Zusätzlich ist es so, dass junge Menschen – und das ist weltweit so, nicht nur in Österreich – bei Stress und psychischen Problemen am stärksten belastet sind“ gibt Juen zu bedenken. So haben psychische Störungen allgemein bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgrund der Covid-19-Krise „extrem zugenommen“ – Essstörungen sind nur ein Aspekt davon. Das belegt auch die eingangs erwähnte Studie der Donau-Universität Krems. Mehr als die Hälfte der jugendlichen Teilnehmer (55 %) wies eine depressive Symptomatik auf, nahezu die Hälfte litt unter Angststörungssymptomen (47 %) und immerhin ein Viertel der Jugendlichen (23 %) klagte über Schlaflosigkeit.

Prävention (wieder) hochfahren

Denn „die Covid-19-Situation beeinflusst nicht nur die Therapie der Jugendlichen, sondern vor allem die Entstehung von Essstörungen“, wie Juen nochmal betont. Jugendliche hätten derzeit Probleme in drei Bereichen, die alle körperlich relevant werden: Essen, Schlafen und Bewegung.

Bei vielen Jugendlichen, die abends ohnehin ungern schlafen gehen, hat sich die Situation durch die Schulschließungen massiv verschärft.

„Die langfristigen Folgen dieser Entwicklung kann keiner von uns abschätzen“, sagt Zeiler und verweist auf Jugendliche, die zurzeit nur eine leichte Essstörungssymptomatik haben oder ein erhöhtes Risiko, eine Essstörung zu entwickeln. Viele an der Kippe zu einer Essstörung stehenden Jugendliche könne man noch „abfangen“. Kritisch sei allerdings, dass Maßnahmen wie Essstörungs-Prävention an Schulen im vergangenen Jahr nahezu unmöglich waren. Schulen werden von den Experten als wichtige Partner gesehen, weil dort viele Jugendliche gut erreicht werden können. Zeiler: „Eigentlich müsste man nach den pandemiebedingten Einschränkungen genau diese Prävention – so wie die Prävention für andere Risikogruppen – rasch wieder hochfahren und idealerweise verstärkt anbieten, um mögliche langfristige Folgen zu dämpfen.“

Doch Zeiler weiß auch von positiven Folgen der Pandemie zu berichten: „Bei einigen Patientinnen hat sich der familiäre Zusammenhalt während der Lockdowns verbessert, weil wieder die gesamte Familie zusammen war. Eine Jugendliche konnte zum Beispiel das erste Mal mit ihrer Schwester über ihre Essstörung sprechen und hat erzählt, wie erleichternd das für sie war.“


Covid-19-Pandemie: Warum mehr Essstörungen

Veränderter Alltag: Homeschooling und Social Distancing führten zu einem Verlust der gewohnten Tagesstruktur. Die Jugendlichen haben die Einschränkungen kompensiert, indem sie sich verstärkt mit Ernährung auseinandergesetzt haben, berichtet Univ.-Prof. Kathrin Sevecke. Die zusätzlich vorhandene Zeit wurden unter anderem für Internetrecherchen verwendet: Welche Ernährungsformen gibt es, wie können Lebensmittel zubereitet werden, aber auch: Welche Diäten und Homesport-Möglichkeiten gibt es?

Überforderte Eltern: „Wir sehen in der Anamnese, dass die Eltern mit der Situation oft selbst massiv überfordert waren und sind: Durch Homeoffice, Homeschooling, Erkrankungen oder finanzielle Sorgen haben sie einfach nicht bemerkt, dass ihr Kind so stark ab- oder zugenommen hat“, weiß Sevecke.

Fehlende Peergroup: Den Jugendlichen sind Gleichaltrige als primäre Bezugsgruppe und somit auch positive „Role Models“ abhandengekommen. Sevecke: „Durch den fehlenden direkten Kontakt sind sie ihren Gedanken zum Thema Essen oder Figur allein ausgeliefert.“

Extreme Hinwendung zum/Abwendung vom Sport: Outdoor-Sport und Fitnesscenter sind zwar weggefallen, doch die Jugendlichen hatten mehr Zeit für Sport. Das hat bei einigen zwanghaften Charakter angenommen und eine anorektische Essstörung weiter begünstigt, erklären Sevecke und Zeiler. Die gegenteilige Entwicklung mit ausgeprägtem Bewegungsmangel führte zu mehr adipösen Jugendlichen.

Social Media: Soziale Medien wurden von Jugendlichen intensiver genutzt. Viele Patienten berichten zum Beispiel von Fitness-Challenges. Eine fragwürdige Rolle spielen dabei Fitness-Influencer, die ihre oft jugendlichen Anhänger auffordern, immer exzessiver Sport zu betreiben. Das kann laut Zeiler dazu beitragen, dass eine Essstörung entsteht bzw. sich weiterentwickelt. Weiter befeuert werden Probleme mit dem Körperbild auch durch kursierende Nachrichten über eine (potentielle) Gewichtszunahme in der Pandemie.


Weitere Informationen

 

Red/M. Weinzierl

 

Literatur:

Pieh C, Plener P, Probst T et al.: Mental health in adolescents during COVID-19-related social distancing and homeschooling. SSRN Electronic Journal, Mar 2021

Zeiler M, Wittek T, Kahlenberg L et al.: Impact of COVID-19 Confinement on Adolescent Patients with Anorexia Nervosa: A Qualitative Interview Study Involving Adolescents and Parents. Int J Environ Res Public Health 2021, 18: 4251

 

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