Pflanzliche Nahrungsmittel enthalten sehr viele verschiedene sogenannte sekundäre Pflanzenstoffe. Sie erfüllen wichtige Funktionen für die Pflanzen und beeinflussen auch im menschlichen Organismus zahlreiche Stoffwechselprozesse. Man geht davon aus, dass positive Effekte pflanzlicher Nahrungsmittel nicht zuletzt auf diese Substanzen zurückzuführen sind. Das Journal für Ernährungsmedizin widmet sich diesem umfangreichen Thema in mehreren Teilen. Den Anfang macht ein Überblick über Vielfalt und Vorkommen.
Carotinoide, Resveratrol, Senfölglucoside, Phytoöstrogene – sie alle gehören zu den rund 10.000 sekundären Pflanzenstoffen, die mit der Nahrung aufgenommen werden. Nicht nur deren Anzahl ist riesig, auch die Menge ist beträchtlich. Etwa 1,5g sind in einer „gemischten Kost“ pro Tag enthalten. Schätzungen zur Aufnahme einzelner Gruppen sekundärer Pflanzenstoffe sind in Tabelle 1 angeführt. Sie kommen in praktisch allen pflanzlichen Nahrungsmitteln vor – in Gemüse, Obst, Kartoffeln, Hülsenfrüchten, Nüssen und Vollkornprodukten.
Insgesamt wurden bisher mehr als 80.000 sekundäre Pflanzenstoffe identifiziert, die definitionsgemäß weder im Energiestoffwechsel noch im anabolen oder im katabolen Stoffwechsel produziert werden, und demnach nicht als zwingend erforderlich für die Pflanze gelten. „Die Abgrenzung zu den primären Pflanzenstoffen ist allerdings nicht immer ganz einfach“, sagt der Lebensmittelchemiker Univ.-Prof. Dr. Michael Murkovic vom Institut für Biochemie an der TU Graz. So hat zum Beispiel das β-Carotin mehrere Funktionen in der Pflanze: „Einerseits ist es Bestandteil des Photosystems und dabei für den Elektronentransport verantwortlich und somit elementar notwendig für das Überleben der Pflanze, andererseits wird β-Carotin für die Farbgebung von Früchten und Blüten verwendet, um Insekten für die Bestäubung anzulocken, oder die Früchte entsprechend attraktiv zu gestalten, dass es zu einer verbesserten Ausbreitung der Samen kommt.“ Weitere wichtige Funktionen dieser Substanzen liegen unter anderem in der chemischen Abwehr von Fressfeinden und mikrobiellen Parasiten sowie im Schutz vor UV-Strahlung.
Im menschlichen Organismus
Sekundäre Pflanzenstoffe beeinflussen zahlreiche Prozesse im menschlichen Stoffwechsel. Daraus resultieren verschiedenste Effekte, die gesundheitsfördernde, pharmakologische und toxische Wirkungen umfassen. Wenn von sekundären Pflanzenstoffen – auch als Phytochemikalien oder englisch Phytochemicals bezeichnet – die Rede ist, dann sind im Allgemeinen diejenigen Substanzen gemeint, die positive Effekte entfalten. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen einfacher gesundheitsfördernder und pharmakologischer Wirkung nicht selten. Zahlreiche Pflanzen wie Ingwer, Pfefferminze oder Thymian werden nicht nur in Nahrungsmitteln, sondern auch in Phytopharmaka eingesetzt.
„Das Potential pflanzlicher Wirkstoffe wird häufig belächelt und der Komplementärmedizin oder gar der Homöopathie zugerechnet“, konstatiert Priv.-Doz. Dr. Clemens Röhrl, Senior Researcher am Center of Excellence „Lebensmitteltechnologie und Ernährung“ der FH Oberösterreich in Wels, „dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass eine Vielzahl klinisch erprobter Medikamente von pflanzlichen Wirkstoffen abstammt.“ Als prominente Beispiele nennt der Biochemiker und Ernährungswissenschafter die als Cholesterinsenker breit eingesetzten Statine, die sich von natürlichen Verbindungen ableiten: Mevastatin (Compactin), das erste beschriebene Statin, wurde aus Pilzen isoliert, was das enorme Potential pflanzlicher Wirkstoffe unterstreicht. Die Erforschung sekundärer Pflanzenstoffe ist bei weitem noch nicht abgeschlossen – es dürfte noch so manche Überraschung warten.
„Ein aufgrund seiner Komplexität noch wenig verstandener Aspekt der sekundären Pflanzeninhaltsstoffe ist deren synergistische Wirkung“, so Röhrl, der sich in seinen Forschungen unter anderem mit diesen Fragestellungen auseinandersetzt. Zum Beispiel: Manche sekundären Pflanzenstoffe wirken als „Bioenhancer“ und sind in der Lage, die Bioverfügbarkeit anderer Pflanzeninhaltsstoffe zu steigern. So ist bekannt, dass Piperin, das in hoher Konzentration in Pfeffer vorkommt, die Bioverfügbarkeit von Curcumin erhöht. „Weiters ist erwähnenswert, dass einzelne Pflanzeninhaltsstoffe über verschiedene Mechanismen synergistisch wirken“, so Röhrl. So steigert Epigallocatechin‑3‑gallat (EGCG), ein Polyphenol aus grünem Tee, die Glukoseaufnahme in die Zellen über dieselben Mechanismen, über die auch Thiazolidindione (dazu zählen Rosiglitazon oder Pioglitazon) als Insulin-Sensitizer wirken. Zusätzlich täuscht EGCG den Zellen einen Energiemangel vor, der wiederum durch Aufnahme von Glukose aus dem Blut kompensiert wird.
Immer mehr Studien
In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der Publikationen zu sekundären Pflanzenstoffen vervielfacht. Es liegen mittlerweile auch große Beobachtungsstudien und Interventionsstudien mit isolierten Substanzen vor und die Hinweise auf gesundheitlichen Benefit mehren sich. Dennoch zieht die Deutsche Gesellschaft für Ernährung vorläufig das Resümee, dass es aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage zwar generell möglich sei, die präventive Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe zu bewerten, Empfehlungen für die Zufuhr einzelner dieser Substanzen jedoch weiterhin nicht gegeben werden könnten. Möglicherweise sei für die Wirkung die Aufnahme im Verbund eines Lebensmittels notwendig. Man könne jedoch davon ausgehen, dass sekundäre Pflanzenstoffe beziehungsweise pflanzliche Lebensmittel das Risiko für die Entstehung verschiedener Erkrankungen senken können.
Das zunehmende Interesse an sekundären Pflanzenstoffen spiegelt sich in einer 2019 publizierten Literaturarbeit. Eine Analyse von knapp 300.000 Arbeiten zum Thema „oxidativer Stress“ hat ergeben, dass sich der Schwerpunkt in diesem Bereich in Richtung pflanzlicher Substanzen verlagert hat. Vor dem Jahr 2000 seien noch antioxidative Vitamine und Mineralien im Blickpunkt des Interesses gestanden. Aktuellere Studien konzentrierten sich vermehrt auf die Wirkungen sekundärer Pflanzenstoffe wie Curcumin oder Resveratrol. Die Autoren vermuten, dass der Grund in den enttäuschenden Ergebnissen klinischer Studien mit antioxidativen Vitaminen und Mineralien liege.
Ein wenig Chemie
Was sagt die Chemie zur Natur der sekundären Pflanzenstoffe? „Die zugeordneten Strukturgruppen sind äußerst vielfältig, jedoch handelt es sich in der Regel um eher kleinere Moleküle“, so Murkovic, „Eine Strukturierung dieser Vielfalt ist notwendig und daher werden diese Stoffe in chemische Gruppen mit ähnlichen Eigenschaften eingeteilt, wobei sich drei Großgruppen ergeben, die in sich wiederum sehr heterogen sind“. Bei den Großgruppen handelt es sich um Terpene bzw. Isoprenoide, Phenolische und niedermolekulare stickstoffhaltige Verbindungen.
Häufig wird bei der Beschreibung sekundärer Pflanzenstoffe eine detailliertere Gliederung in mehrere Untergruppen auf Basis ihrer chemischen Struktur und ihrer funktionellen Eigenschaften verwendet. In der Tabelle 2 ist eine gebräuchliche Liste zusammengestellt, in der auch die Bedeutung für Pflanzen und Beispiele für das Vorkommen angeführt sind. Darüber hinaus sind noch Chlorophyll und Phytinsäure als sekundäre Pflanzenstoffe zu nennen, die nicht in die chemische Klassifizierung der drei Großgruppen passen, und Protease-Inhibitoren, die aufgrund ihrer Funktionen gesondert zu betrachten sind.
Gruppen im Überblick
Flavonoide
Mit mehr als 6.000 Substanzen sind die Flavonoide nicht nur eine äußerst umfangreiche, sondern auch eine anteilsmäßig bedeutende Gruppe sekundärer Pflanzenstoffe. Flavonoide fallen unter anderem als Farbstoffe auf. Die hellgelbe, rote, blaue bis violette Färbung von Blüten, Früchten und anderen Pflanzenteilen geht zu einem beträchtlichen Teil auf verschiedene Flavonoide zurück. Diese weisen zudem zahlreiche Eigenschaften auf, die sie als gesundheitsfördernd prädestinieren. Die höchsten Konzentrationen von Flavonoiden finden sich in den Randschichten von Pflanzen.
Phenolsäuren
Wie viele Substanzen diese Gruppe sekundärer Pflanzenstoff umfasst ist nicht bekannt, die größten Mengen von Phenolsäuren in der menschlichen Ernährung dürften sich jedenfalls im Kaffee finden. Eine Tasse enthält immerhin an die 7mg Kaffeesäure. Auch die Phenolsäuren finden sich anteilsmäßig am meisten in den Randschichten und Schalen von Pflanzen, wo sie als Abwehrstoff gegen Fressfeinde und als zusätzliche Stabilisatoren der Zellwände wirken. Das spiegelt sich zum Beispiel in den Unterschieden zwischen Vollkorn- und Weißmehl, wo ein Kilo entweder 500mg oder 50mg Ferulasäure enthält.
Phytoöstrogene
Phytoöstrogene gehören zwar zu verschiedenen chemischen Verbindungsklassen innerhalb der Phenole, sind aber allesamt dem menschlichen 17-Beta-Estradiol so ähnlich, dass sie an den Östrogen-Rezeptor im menschlichen Organismus binden und damit Hormonwirkung entfalten können. Die Wirkung im Vergleich zum humanen Östrogen ist sehr viel geringer, die lebenslange Aufnahme relevanter Mengen verringert aber offenbar das Risiko von Tumorerkrankungen. In asiatischen Ländern, wo der Verzehr von Sojaprodukten etwa zehn Mal so groß ist wie in Europa, ist die Inzidenz von Mammakarzinomen wesentlich geringer.
Carotinoide
Diese Gruppe spielt wieder eine zentrale Rolle als Farbstoffe mit gleichzeitig einem hohen antioxidativen Potenzial. Das dunklere Gelb, Orange und Rot von Blüten und Früchten geht auf Carotinoide zurück, die auch reichlich in grünem Gemüse enthalten sind, wo ihre Farbe aber durch Chlorophyll überdeckt wird. So bekannte Substanzen wie α- und β-Carotin – als Vitamin-A-Vorstufe von besonderer Bedeutung – Lycopin, Lutein und Zeaxanthin gehören zu der rund 700 Substanzen umfassenden Gruppe.
Monoterpene
Zu den Monoterpenen zählen so wichtige Aromastoffe wie Limonen in Zitrusfrüchten, Menthol in Pfefferminze oder Thymol in Thymian. Monoterpene sind wie Terpene generell häufig anzutreffende Bestandteile ätherischer Öle. Wie viele Substanzen diese Gruppe umfasst, ist nicht bekannt. Natürliche oder synthetisch hergestellte pflanzliche Monoterpene werden in der Lebensmittelindustrie und in der Parfumherstellung vielfach verwendet.
Phytosterine
Ähnlich den tierischen Sterinen wie Cholesterin sind Phytosterine Bestandteil der pflanzlichen Zellmembran. In größeren Mengen kommen Substanzen dieser mit mehr als 100 Substanzen relativ kleinen Gruppe in fettreichen Pflanzenteilen und damit in Samen und Früchten vor. Die Absorptionsrate im Gastrointestinaltrakt ist für Phytosterine wesentlich geringer als diejenige von Cholesterin.
Saponine
Die Bezeichnung Saponine geht auf den lateinischen Begriff „sapo“ für Seife zurück und beschreibt damit schon deren herausragendste Eigenschaft, die Tensidwirkung. Aufgrund dessen werden diese Substanzen auch in der Lebensmittelproduktion, zum Beispiel zur Förderung der Schaumbildung bei Bier, verwendet. Sie weisen zwar eine gewisse hämolytische Wirkung auf, sind jedoch nicht als toxisch zu bewerten. Hohe Saponingehalte bei Lebensmitteln wie Hirse, Soja oder Leguminosen werden durch traditionelle Techniken wie langes Einweichen reduziert.
Glucosinolate/Senfölglucoside
Diese neben Stickstoff- auch Schwefel-haltigen Substanzen kommen vor allem in Kreuzblütlern (Brassicaceae) vor und sind für den typischen Geschmack von Kohl, Senf, Kren usw. verantwortlich. Charakteristisch für diese mit mehr als 120 Substanzen ebenfalls relativ kleine Gruppe sekundärer Pflanzenstoffe ist, dass sie erst nach Zerstörung der Pflanzenzellen – sei es durch Zubereitung von Lebensmitteln oder im Zug eines Angriffs durch Pathogene – zerfallen, wobei scharfe und geruchsintensive Moleküle freigesetzt werden.
Sulfide/Alliine
Auch bei diesen Substanzen ist die Zerstörung der Pflanzenzellen und eine damit einhergehende enzymatische Umsetzung erforderlich, damit die geruchsaktiven Stoffe freigesetzt werden. Ihrer Bezeichnung entsprechend enthalten Sulfide neben Stickstoff auch Schwefel. Der bekannteste Vertreter dieser Gruppe dürfte das Allicin des Knoblauchs sein.
Literatur (Auszug):
Carle R: Sekundäre Pflanzenstoffe, in Ernährungsmedizin, Hrsg. H.K. Biesalski, S.C. Bischoff, M. Pirlich, A., Weimann. 5. Auflage, Thieme, Stuttgart, 2017, 251–258.
Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Sekundäre Pflanzenstoffe und ihre Wirkung auf die Gesundheit – eine Aktualisierung anhand des Ernährungsberichtes 2012. DGEinfo 12/2014: 178–186
Schweizer Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV; https://www.5amtag.ch/
Watzl B. Fundort Pflanzenzelle. Einführung in Vorkommen, Eigenschaften und Wirkungsweise sekundärer Pflanzenstoffe. Akt Ern Med 2011; 36: S2–S5
Yeung AWK, et al. Antioxidants: Scientific Literature Landscape Analysis. Oxid Med Cell Longev 2019 Jan 8