Das Journal für Ernährungsmedizin hat sich nicht nur einen gestalterischen Relaunch „verordnet“, auch inhaltlich und organisatorisch stehen Neuerungen auf dem Programm. Die wissenschaftliche Redaktion geht in einem Editorial Board auf, das wir Ihnen in der nächsten Ausgabe vorstellen dürfen. Als Herausgeber fungieren em. Univ.-Prof. Dr. Kurt Widhalm und Präs. Dr. Artur Wechselberger.
Wo geht die Reise mit dem neuen Journal für Ernährungsmedizin hin?
Widhalm: Alles in allem geht es darum, die Ernährung als wesentlichen Teil der Therapie und der Prävention stärker zu positionieren und mehr Awareness für das Potenzial der Ernährung zu schaffen. Weiters gilt es, die Zusammenarbeit der mit Ernährung befassten Gesundheitsberufe zu verbessern.
Wechselberger: Das Journal für Ernährungsmedizin ist eine gut eingeführte Zeitschrift. Es ist einfach wieder einmal an der Zeit, die Richtlinien und die Blattlinie zu schärfen, Korrekturen vorzunehmen, wo welche vorzunehmen sind, und Stärken weiter zu stärken. Eine ernährungsmedizinische Zeitschrift ausschließlich mit hochwertigen Publikationen zu füllen wird in Österreich kaum möglich sein, daher müssen wir versuchen, eine gewisse Breite zu erzielen, ohne den wissenschaftlichen Anspruch zu verlieren.
Welche Gruppen innerhalb der Ärzteschaft sollen vor allem angesprochen werden?
Wechselberger: Die Zeitschrift wendet sich nach wie vor primär an Ärztinnen und Ärzte mit einem besonderen Interesse an Ernährungsmedizin. Das sind nicht nur jene, die ein Diplom erworben haben. Es sind auch diejenigen, die aus ihrer ärztlichen Tätigkeit heraus wissen, wie wichtig Ernährungsmedizin im täglichen Behandlungsgeschehen und in der Prävention ist – allen voran Allgemeinmediziner, Internisten und Kinderärzte. Idealerweise sollten wir neben der etablierten Ärzteschaft auch mehr Leser in der Studentenschaft finden, ebenso bei den Kolleginnen und Kollegen in der postpromotionellen Ausbildung.
Widhalm: Unser Ziel mit diesem Journal ist einerseits, Ärztinnen und Ärzte jeglicher Ausbildung über den Stand der Wissenschaft ausreichend und gut zu informieren. Andererseits geht es darum, ein Portal für junge Leute zu schaffen und sie anzuregen, Studien zu machen und Arbeiten zu verfassen, die im Journal für Ernährungsmedizin publiziert werden können.
Sehen Sie in Österreich Nachholbedarf speziell bei der Untersuchung ernährungsmedizinischen Fragestellungen?
Widhalm: Wir haben aus Österreich zum Beispiel praktisch keine Daten über den Ernährungsstatus, sei es bei Senioren, bei Kindern, Jugendlichen oder bei Menschen, die sich einseitig ernähren. Gibt es Unterversorgung? Gibt es Defizite? Wie kann man den Defiziten vorbeugen? Wie kann man Supplemente gezielt einsetzen? Wie viele Menschen mit Sarkopenie gibt es in Altersheimen? Auch die Ernährungssituation von Migranten ist ein wichtiges Thema, mit dem wir uns noch viel zu wenig beschäftigt haben.
Wie kann man sich die Förderung der Publikationstätigkeit junger Ärzte vorstellen?
Wechselberger: Man könnte unter anderem bei den Diplomarbeiten, die als Abschluss des Medizinstudiums gemacht werden müssen, ansetzen und Diplomanden beziehungsweise deren Betreuer einladen, ernährungsmedizinische Themen zu wählen. Wie schon angesprochen gibt es ja viele naheliegende Fragestellungen, deren Bearbeitung sehr lohnend sein kann. Die Arbeiten könnten durchaus im engeren Umfeld durchgeführt werden – im eigenen Krankenhaus, in einem Altersheim in der Umgebung oder auch im studentischen Umfeld.
Die jungen Kolleginnen und Kollegen hätten damit die Option, sich einem Thema zu widmen, das noch nicht über-bearbeitet ist, das direkte praktische Relevanz hat und für das wir mit dem Journal für Ernährungsmedizin ein ernst zu nehmendes Journal für eine Publikation bieten – die übrigens auch in deutscher Sprache abgefasst sein kann.
Auf einen publizierten Artikel kann man nicht nur persönlich stolz sein. Man kann mit mehr Nachdruck auf eine Diplomarbeit verweisen, die nicht nur von der Universität anerkannt wurde, sondern darüber hinaus den Reviewprozess des Journals für Ernährungsmedizin durchlaufen hat. Werden dabei verbesserungswürdige Umstände aufgezeigt, kann man an die Politik herantreten und Veränderungen anregen. Das ist doch eine reizvolle Aufgabe – egal ob die wissenschaftliche Laufbahn weiterverfolgt wird oder ob das die einzige Publikation des Lebens bleibt.
Widhalm: Ich kann es nur sehr unterstützen, dass man jungen Leuten die Chance gibt, einmal eine wissenschaftliche Arbeit gemacht und publiziert zu haben. Vielleicht wird dadurch das Interesse an wissenschaftlicher Tätigkeit geweckt. Wenn man einmal eine wissenschaftliche Arbeit gemacht und publiziert hat, weiß man jedenfalls, wie so eine Arbeit zustande kommt, man weiß, wie eine Literatursuche gemacht und Statistiken erstellt werden – und man kann Arbeiten besser interpretieren
Welche Bedeutung hat Ernährungsmedizin heute generell?
Widhalm: Ernährung als Teil der Prävention und als Teil der Therapie ist ein zunehmend wichtiger Bereich in der Medizin. Leider ist die Ernährungsmedizin in Österreich nicht in dem Maße in die Curricula inkludiert, wie wir uns das wünschen würden. Dass man mit Ernährung heute sehr viel erreichen kann, ist aber vielen klar. Allerdings sind die Informationen, die sowohl Ärzte als auch Laien bekommen, zum Großteil nicht wirklich evidenzbasiert.
Wechselberger: Man kann drei Zielrichtungen der Ernährungsmedizin unterscheiden, die wir im Journal alle im Blick behalten wollen. Dabei handelt es sich um den großen Bereich der Prävention, die nicht minder umfangreichen kurativen Möglichkeiten und schließlich – das sollte man nicht vergessen – um Fragen des Lebensstils, die natürlich auch wissenschaftlich fundiert abgehandelt werden müssen.
Welche Bedeutung haben Lebensstilfragen für den betreuenden Arzt?
Wechselberger: In der ärztlichen Praxis ist man ständig mit Lebensstilfragen konfrontiert, ebenso mit Trends in der Ernährung, die nicht selten mit esoterischen und mystischen Elementen vermengt sind. Wenn man weiß, welche Ernährungstrends gerade en vogue sind und diese adäquat einzuschätzen weiß, kann man wesentlich besser beratend tätig sein.
Das Journal für Ernährungsmedizin soll also mehr Service bieten.
Widhalm: Das halte ich für einen sehr wichtigen Punkt. Bedarf besteht unter anderem bei der Betreuung von Patienten nach einem Krankenhausaufenthalt. Im Spital sind Patienten häufig nicht aufnahmefähig genug, um empfohlene Lebensstilmaßnahmen ganz zu erfassen. Umso wichtiger ist eine entsprechende poststationäre Betreuung durch den niedergelassenen Arzt – auch dabei wollen wir Unterstützung bieten.
Wechselberger: Es liegt mir besonders am Herzen, dass die Leser praktische Umsetzungsmöglichkeiten vorfinden. Ernährungsempfehlungen sind häufig noch viel zu allgemein formuliert. Empfehlungen wie ‚Essen Sie gesünder‘, ‚Verwenden Sie weniger Fett‘ oder ‚Essen Sie mehr Kohlenhydrate‘ sind wenig hilfreich. Das wissen die Betroffenen meist schon. Aber was heißt das konkret auf einzelne Lebensmittel bezogen? Unser Ziel ist es, Informationen zu liefern, die beim nächsten Einkauf umgesetzt werden können.
Weiters ist man als Arzt auch Übersetzer wissenschaftlicher Aussagen. Da kann es sehr hilfreich sein, einen Artikel mit auch für Laien verständlich aufbereiteten Informationen zur Hand zu haben. Handouts werden von Patienten sehr geschätzt, wobei diese möglichst einfach abgefasst sein sollten und Raum für individuelle Anmerkungen bieten.
Wenn das Journal für Ernährungsmedizin die „Übersetzertätigkeit“ der Ärzte unterstützt, kann es damit auch das Laienpublikum direkt ansprechen.
Widhalm: Ich bin überzeugt davon, dass wir ein Medium sein sollen, das sich auch an Laien wendet. Laien sind an wissenschaftlichen Ergebnissen sehr interessiert und im Bereich Ernährung gibt es in Österreich praktisch kein Journal, das sich mit evidenzbasierter Medizin in einer leicht verständlichen Form beschäftigt. Gleichzeitig soll dieses Journal auch Laien Tools zur Verfügung stellen, die eine Änderung des Verhaltens im Sinne besserer Ernährungsgewohnheiten leichter möglich machen.
Partner der Ärzteschaft in ernährungsmedizinischen Fragen sind Diätologinnen und Diätologen …
Widhalm: Wir müssen in beiden Gruppen mehr Awareness für die Bedeutung der Ernährung in der Therapie schaffen. Jeder von uns kennt Patienten, die nach einer Operation oder während einer Chemotherapie innerhalb kurzer Zeit viel zu viel Gewicht verloren haben. Hier wäre eine adäquate Ernährungstherapie erforderlich, die individuell sehr verschieden sein kann. Das erfordert eine gute Zusammenarbeit beider Gruppen.
Wechselberger. Meinem Eindruck zufolge haben sich Ärzte und Diätologen in letzter Zeit eher auseinanderentwickelt, obwohl sie an denselben Zielen arbeiten. Dem Aufbau des österreichischen Gesundheitswesens entsprechend setzen Diätologen das um, was Ärzte als therapeutische oder präventive Maßnahme vorschlagen und anordnen. Dafür müssen wir einander auch verstehen, wir müssen dieselbe Sprache sprechen. Das Journal für Ernährungsmedizin bietet eine Chance, sich wieder anzunähern. Deshalb ist es meiner Ansicht nach auch sinnvoll und zielführend, dass Diätologen ihre Erfahrungen hier einbringen.
Wie kann der Beitrag der Diätologie zum Journal für Ernährungsmedizin konkret aussehen?
Wechselberger: Ich sehe den Beitrag und die Stärke der Diätologen vor allem im praxisbezogenen Bereich, ob das nun Fallberichte, Fallstudien oder Erfahrungsberichte sind. Ein markanter und gut dokumentierter Fallbericht kann sehr viel Praxisrelevanz enthalten. Diätologen haben ein umfangreiches ernährungstherapeutisches Wissen und einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit Patienten. Auch in diesem Zusammenhang halte ich die leichte Zugänglichkeit ernährungstherapeutischer Empfehlungen für essenziell. Die Vorschläge müssen für einen Durchschnittskonsumenten einfach umsetzbar sein.
Widhalm: Mir erscheint der Punkt betreffend dieselbe Sprache sehr wichtig. Dieselbe Sprache zu sprechen impliziert auch die gemeinsame Ausrichtung der Tätigkeit nach Guidelines, die aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse evidenzbasiert sind. Diätologische Verfahren müssen evaluiert werden, die Ergebnisse einer Ernährungstherapie müssen greifbar und dokumentiert sein, und sie müssen auch kommuniziert werden. Wir müssen mehr miteinander reden – vor, während und nach einer Ernährungstherapie.
In Amerika sind die Clinical Nutritionists bei Visiten dabei. Bei uns werden die Diätologen oft alleine gelassen. Diätologen müssen aber auch die Befunde und die Medikation kennen, sie müssen wissen, welche Interaktionen es geben kann.
Was heißt eigentlich „gesunde Ernährung“ heute?
Widhalm: Ich möchte den Begriff „gesund ernähren“ dezidiert so stehen lassen. Viele Begriffe wie zum Beispiel „ausgewogen“ sind nirgends definiert. Auch können wir durch Guidelines, durch Empfehlungen, nur einen Überbau geben. Jeder Mensch hat eine andere Konstitution. Der eine verträgt keine Zwiebel, manche wollen am Abend keinen Salat essen, andere lieber auf Fleisch verzichten. Auf diese individuellen Gegebenheiten müssen wir gezielt eingehen und Ärzten auch Tools in die Hand geben, wie er mit dem Patienten umgeht. Nicht jeder Patient mit einem Reizdarmsyndrom wird dieselbe Therapie brauchen – das kann sehr unterschiedlich sein. Aber gewisse Grundlagen sind vorhanden.
Wechselberger. Wenn es um gesunde Ernährung geht, spielt auch der Genussaspekt eine große Rolle und sollte in diesem Journal vorkommen. In letzter Zeit hat sich eine große Verunsicherung ausgebreitet was die Ernährung betrifft. Essen sollte aber Freude machen, wieder Freude machen, und wir wollen Informationen dazu liefern, wie sich das mit einer gesunden Ernährung vereinbaren lässt.
In Hinblick auf Megatrends wie Fast Food, Convenience, Snackification usw. spielt die Lebensmittelindustrie eine bedeutende Rolle, wenn es um eine gesunde Ernährung geht.
Widhalm: Wir sind grundsätzlich offen für alle Disziplinen. Die Lebensmittelwirtschaft hat einen großen Anteil, der bei uns auch zur Sprache kommen soll. Das Problem der Lebensmittelwirtschaft weltweit ist aber, dass Gesundheitsaspekte noch sehr wenig berücksichtigt werden. Wir sollten versuchen, die Lebensmittelindustrie als Partner für eine gesunde Ernährung zu gewinnen. Dabei geht es um Gemeinschaftsverpflegung ebenso wie um die Produktion.
Wechselberger: Der Bedarf an Convenience, an ‚schneller‘ Küche ist vorhanden, das kann man nicht wegdiskutieren. Man kann auch Fertiggerichte nicht pauschal ablehnen. Es geht darum, Wege zu einer qualitätsvollen ‚schnellen‘ Küche aufzuzeigen, die es ja durchaus gibt. Eine Voraussetzung dafür sind qualitätsvolle Inhaltsstoffe. In dieser Richtung müssen wir versuchen, die Lebensmittelindustrie zu sensibilisieren.