Ethik, Nachhaltigkeit und geschmackliche Vielfalt – es spricht viel dafür, mehr Teile eines Tieres zu essen als Filet, Steak & Schnitzel. Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren eine kleine, feine Szene entwickelt, in der die „Nose-to-tail“-Küche gepflegt wird. Mittlerweile finden sich wieder mehr traditionelle Gerichte mit Innereien auf den Speisekarten und es kommen extravagante neue Kreationen dazu. Doch was sagen Medizin, Diätologie und Ernährungswissenschaft zu mehr Innereien am Teller?
Die Medizin
„Aus ärztlicher Sicht ist es kaum je notwendig, vom Verzehr von Innereien grundsätzlich abzuraten“, fasst der Wiener Physiologe Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Marktl zusammen. Vielmehr könnten Innereien eine gesunde Ernährung aus mehreren Gründen unterstützen. Da wäre der im Vergleich zu anderen Fleischsorten intensivere Geschmack, der von einem übermäßigen Verzehr von Leber, Beuschel, Nieren u.s.w. eher abhält. Weiters liefern Innereien Vitamine, Mineralstoffe und andere Nährstoffe in relativ hohen Konzentrationen zu einem günstigen Preis.
Die Leber hatte im Lauf der Medizingeschichte sogar einen besonderen Auftritt. In den 1920er Jahren wurde rohe Leber nämlich als erste wirksame Behandlung der Perniziösen Anämie entdeckt, erzählt Marktl. Die Patienten bekamen 20 Deka und mehr geschabte rohe Leber pro Tag, zur besseren Genießbarkeit unter anderem vermischt mit Zitronen- oder Apfelsaft. Der US-amerikanische Arzt George Whipple hatte bei Tierversuchen bemerkt, dass verfütterte Leber die Blutbildung fördert, die Mediziner George Minot und William Murphy aus Harvard arbeiteten auf dieser Basis die erfolgreiche Therapie der Perniziösen Anämie aus – und die drei Kollegen konnten im Jahr 1934 dafür den Nobelpreis für Medizin und Physiologie einheimsen. Wie man später herausfand, war das wirksame Agens Vitamin B12. Bald wurden Leberextrakte produziert und mit der Synthese von Vitamin B12 in den 1940er Jahren war die Karriere der rohen geschabten Leber als lebensrettende Therapie dann endgültig vorbei.
Interne Regulation von Cholesterin
Nun enthalten Innereien auch reichlich Cholesterin, was ihnen auch häufig angekreidet wird. „Die Bedeutung der Ernährung für die Cholesterinkonzentration im Serum wurde – und wird teilweise noch – stark überschätzt“, wendet Marktl ein, „tatsächlich überwiegen verschiedene interne Regulationsmechanismen bei weitem.“ Auch das individuelle Stressempfinden haben einen wesentlich größeren Einfluss als die Ernährung. Marktl: „Zahlreiche hochwertige Studien zeigen, dass eine erhöhte subjektive Stressbelastung mit einem erhöhten Cholesterinspiegel einhergeht.“ Der Triglyceridspiegel hingegen hänge sehr wohl mit der Ernährung bzw. der Menge des aufgenommenen Fetts zusammen.
Zu bedenken wäre unter Umständen der teilweise hohe Puringehalt von Innereien. „Es ist jedoch schwierig, eine streng purinarme Ernährungsweise einzuhalten, da eine Reihe wichtiger Lebensmittel wie einige Gemüsesorten, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte oder auch Muskelfleisch und zahlreiche Fischarten beträchtliche Mengen an Purinen enthalten“, erklärt Marktl. Dass es grundsätzlich möglich ist, eine Hyperurikämie diätologisch zu beeinflussen, zeigten unter anderem Beobachtungen aus Zeiten des Mangels wie während des zweiten Weltkriegs, als Gicht in Europa praktisch nicht vorkam.
Die Diätologie
„Die Verwertung möglichst vieler Teile eines Tieres als Nahrung ist aus meiner Sicht etwas sehr Positives“, fasst die Diätologin Anna Eisenberger aus Graz zusammen, betont aber, dass es dabei sehr auf die Qualität des Produkts ankomme, die von Haltung und Fütterung der Tiere entscheidend beeinflusst werde. Innereien seien jedoch nicht für alle gleichermaßen zu empfehlen. „Für Gesunde gibt es aus diätologischer Sicht keine Einschränkungen hinsichtlich des Konsums von Innereien,“ so Eisenberger, wobei grundsätzlich aber ein gelegentlicher Konsum gemeint ist. Mit Augenmerk auf gute Qualität und nur gelegentlichem Verzehr würden auch die Risiken einer eventuellen Schadstoffbelastung hintangehalten.
Eine Empfehlung der Diätologin betreffend die Zubereitung von Fleisch generell lautet: Nicht nur Gebackenes schmeckt gut. Braten oder schmoren kommt mit wesentlich weniger Fett aus und führt ebenfalls zu hervorragenden Ergebnissen, die in vielen Fällen sogar geschmacksintensiver und interessanter ausfallen.
Stoffwechselkrankheiten & Übergewicht
Wenn Stoffwechselerkrankungen oder starkes Übergewicht vorliegen, dann landen Innereien aus verschiedenen Gründen auf der schwarzen Liste der Diätologie. „Wegen des Cholesteringehalts von Innereien sollte man bei einer ausgeprägten Fettstoffwechselstörung, einer Fettleber oder Adipositas am besten darauf verzichten“, betont Eisenberger, „Zwar wird der Cholesterinspiegel im Blut durch den Verzehr cholesterinreicher Lebensmittel aufgrund verschiedener Regulationsmechanismen nur wenig beeinflusst, es sind jedoch etwa 20 Prozent des Cholesterins im Blut dadurch zu erklären.“
Hyperurikämie und Neigung zu Gichtanfällen sind ebenfalls Gründe von Innereien abzuraten. Doch nicht nur Innereien weisen erhöhte Puringehalte auf. Auch Muskelfleisch und Suppen, besonders unter Verwendung von Knochen, sollten bei erhöhtem Harnsäurespiegel gemieden werden. Andere Lebensmittel wie zum Beispiel Hülsenfrüchte enthalten ebenfalls Purine, wobei deren Gehalt zwar nur bei einem Zehntel des Spitzenreiters Kalbsbries liegt – die Portionsgrößen von Hülsenfrüchten sind im Allgemeinen aber wesentlich größer.
Auch bei rheumatischen Erkrankungen kann es sinnvoll sein, auf Innereien zu verzichten. Dazu Eisenberger: „Leber und Niere zum Beispiel sowie tierische Fette überhaupt enthalten größere Mengen von Arachidonsäure, die ja pro-entzündlich wirkt und die Beschwerden daher verstärken kann.“ Dabei ist allerdings anzumerken, dass Innereien hinsichtlich des Arachidonsäuregehalts im Vergleich zu einem Suppenhuhn als harmlos gelten können.
Und der hohe Nährstoffgehalt von Innereien? Innereien sind reich an Eiweiß, Vitamin A, B, C und Folsäure sowie Mineralstoffen wie Zink und Eisen. Heute stehe eine so große Vielfalt von Lebensmitteln zur Verfügung, dass man zur Deckung des Nährstoffbedarfs nicht auf Innereien angewiesen sei, stellt Eisenberger fest.
Die Ernährungswissenschaft
Woran könnte es liegen, dass Innereien heute so selten auf den Tisch kommen? Eine wichtige Rolle dürfte der Preis für edle Fleischstücke sein, die über die Zeiten teuer, einem kleinen, privilegierten Personenkreis vorbehalten und damit auch ein Statussymbol waren. Heute sind sie im Verhältnis wesentlich billiger und für sehr viel mehr Menschen leistbar.
Für die Abkehr von Innereien lassen sich aber noch weitere Gründe ausmachen, weiß die Ernährungswissenschafterin Mag. Andrea Fičala aus Wien: „Der intensivere Geruch, die dunkleren und häufig blutigen Teile – das wird heute von vielen als ‚nicht sauber‘ empfunden und abgelehnt. Die in den Fleischtheken der Supermärkte angebotenen hellen Stücke erinnern uns nicht an den Prozess des Schlachtens, die meisten Menschen möchten damit auch nicht konfrontiert werden.“ Auch die geschmacklichen Vorlieben haben sich geändert. „Der intensive und häufig eher bittere Geschmack hält viele davon ab, Innereien zu essen“, so Fičala. Heute werde vor allem sehr salzig und sehr süß gewürzt. Schließlich sind einige Traditionen weitgehend in Vergessenheit geraten, die früher mit dem Verzehr nicht edler Fleischteile verbunden waren. Man denke nur an den „Sauschädel“ zu Neujahr.
Großes Plus Nachhaltigkeit
Von den Gründen, die für die Verwertung möglichst vieler Teile eines Tieres als Nahrung sprechen, hat heute vor allem ein Aspekt herausragende Bedeutung: die Nachhaltigkeit. Fičala: „Wir produzieren einen großen Überschuss an nicht edlen Teilen von Schlachttieren, die zumeist als Tiefkühlware in andere Länder und Kontinente exportiert und dort billig verkauft werden.“ Die Folgen sind mehrfach desaströs. Unter anderem verursachen die Transporte beträchtliche Umweltbelastungen und der niedrige Preis ruiniert den Markt für lokale Produzenten. „Schließlich stünde es uns auch gut an, aus ethischen Gründen wertschätzend mit Schlachttieren umzugehen und alle als Nahrung verwertbaren Teile auch zu verwenden“, ist Fičala überzeugt.
Ändert sich etwas? Eine kleine Trendwende ist laut Fičala festzustellen. In Gasthäusern und Restaurants finden sich wieder öfter traditionelle Gerichte mit Innereien auf der Speisekarte, Gourmet-Lokale bieten besondere Spezialitäten und Eigenkreationen an oder arbeiten überhaupt nach dem Prinzip „Nose to tail“. Frequentiert werden sie von traditionsbewussten Feinschmeckern und von Leuten, die neugierig und experimentierfreudig sind oder auch aus Überlegungen zur Nachhaltigkeit heraus animiert werden, Gerichte mit Innereien zu versuchen. Ein Beitrag zu einer Trendwende kommt auch von der Direktvermarktung von Fleisch in „Paketen“ mit verschiedenen Stücken. Manche Produzenten ermöglichen bei Schlachttagen dabei zu sein und so einen unmittelbaren Eindruck von Herkunft und Wert des Lebensmittels Fleisch zu bekommen.
Und wenn man den Geschmack von Innereien einfach nicht mag? „Will man das ändern, kann man sich auch langsam daran gewöhnen, indem man einem Gulasch oder Faschiertem einen kleinen Anteil an Innereien beimischt“, so Fičala. Das Alter spielt übrigens auch eine Rolle: Mit zunehmendem Alter wird ein bitterer Geschmack eher als positiv empfunden als in jungen Jahren.
Red/Karin Gruber