Das ganze Tier – inklusive Innereien

September 2020

Ethik, Nach­hal­tigkeit und geschmack­liche Vielfalt – es spricht viel dafür, mehr Teile eines Tieres zu essen als Filet, Steak & Schnitzel. Tat­sächlich hat sich in den ver­gan­genen Jahren eine kleine, feine Szene ent­wi­ckelt, in der die „Nose-to-tail“-Küche gepflegt wird. Mitt­ler­weile finden sich wieder mehr tra­di­tio­nelle Gerichte mit Inne­reien auf den Spei­se­karten und es kommen extra­va­gante neue Krea­tionen dazu. Doch was sagen Medizin, Diä­to­logie und Ernäh­rungs­wis­sen­schaft zu mehr Inne­reien am Teller?

Die Medizin

„Aus ärzt­licher Sicht ist es kaum je not­wendig, vom Verzehr von Inne­reien grund­sätzlich abzu­raten“, fasst der Wiener Phy­siologe Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Marktl zusammen. Vielmehr könnten Inne­reien eine gesunde Ernährung aus meh­reren Gründen unter­stützen. Da wäre der im Ver­gleich zu anderen Fleisch­sorten inten­sivere Geschmack, der von einem über­mä­ßigen Verzehr von Leber, Beuschel, Nieren u.s.w. eher abhält. Weiters liefern Inne­reien Vit­amine, Mine­ral­stoffe und andere Nähr­stoffe in relativ hohen Kon­zen­tra­tionen zu einem güns­tigen Preis.

Die Leber hatte im Lauf der Medi­zin­ge­schichte sogar einen beson­deren Auf­tritt. In den 1920er Jahren wurde rohe Leber nämlich als erste wirksame Behandlung der Per­ni­ziösen Anämie ent­deckt, erzählt Marktl. Die Pati­enten bekamen 20 Deka und mehr geschabte rohe Leber pro Tag, zur bes­seren Genieß­barkeit unter anderem ver­mischt mit Zitronen- oder Apfelsaft. Der US-​amerikanische Arzt George Whipple hatte bei Tier­ver­suchen bemerkt, dass ver­füt­terte Leber die Blut­bildung fördert, die Medi­ziner George Minot und William Murphy aus Harvard arbei­teten auf dieser Basis die erfolg­reiche The­rapie der Per­ni­ziösen Anämie aus – und die drei Kol­legen konnten im Jahr 1934 dafür den Nobel­preis für Medizin und Phy­sio­logie ein­heimsen. Wie man später her­ausfand, war das wirksame Agens Vitamin B12. Bald wurden Leber­ex­trakte pro­du­ziert und mit der Syn­these von Vitamin B12 in den 1940er Jahren war die Kar­riere der rohen geschabten Leber als lebens­ret­tende The­rapie dann end­gültig vorbei.

Interne Regulation von Cholesterin

Nun ent­halten Inne­reien auch reichlich Cho­le­sterin, was ihnen auch häufig ange­kreidet wird. „Die Bedeutung der Ernährung für die Cho­le­ste­rin­kon­zen­tration im Serum wurde – und wird teil­weise noch – stark über­schätzt“, wendet Marktl ein, „tat­sächlich über­wiegen ver­schiedene interne Regu­la­ti­ons­me­cha­nismen bei weitem.“ Auch das indi­vi­duelle Stress­emp­finden haben einen wesentlich grö­ßeren Ein­fluss als die Ernährung. Marktl: „Zahl­reiche hoch­wertige Studien zeigen, dass eine erhöhte sub­jektive Stress­be­lastung mit einem erhöhten Cho­le­ste­rin­spiegel ein­hergeht.“ Der Tri­gly­ce­rid­spiegel hin­gegen hänge sehr wohl mit der Ernährung bzw. der Menge des auf­ge­nom­menen Fetts zusammen.

Zu bedenken wäre unter Umständen der teil­weise hohe Purin­gehalt von Inne­reien. „Es ist jedoch schwierig, eine streng purinarme Ernäh­rungs­weise ein­zu­halten, da eine Reihe wich­tiger Lebens­mittel wie einige Gemü­se­sorten, Voll­korn­pro­dukte, Hül­sen­früchte oder auch Mus­kel­fleisch und zahl­reiche Fisch­arten beträcht­liche Mengen an Purinen ent­halten“, erklärt Marktl. Dass es grund­sätzlich möglich ist, eine Hyper­urikämie diä­to­lo­gisch zu beein­flussen, zeigten unter anderem Beob­ach­tungen aus Zeiten des Mangels wie während des zweiten Welt­kriegs, als Gicht in Europa prak­tisch nicht vorkam.

Die Diätologie

„Die Ver­wertung mög­lichst vieler Teile eines Tieres als Nahrung ist aus meiner Sicht etwas sehr Posi­tives“, fasst die Diä­to­login Anna Eisen­berger aus Graz zusammen, betont aber, dass es dabei sehr auf die Qua­lität des Pro­dukts ankomme, die von Haltung und Füt­terung der Tiere ent­scheidend beein­flusst werde. Inne­reien seien jedoch nicht für alle glei­cher­maßen zu emp­fehlen. „Für Gesunde gibt es aus diä­to­lo­gi­scher Sicht keine Ein­schrän­kungen hin­sichtlich des Konsums von Inne­reien,“ so Eisen­berger, wobei grund­sätzlich aber ein gele­gent­licher Konsum gemeint ist. Mit Augenmerk auf gute Qua­lität und nur gele­gent­lichem Verzehr würden auch die Risiken einer even­tu­ellen Schad­stoff­be­lastung hintangehalten.

Eine Emp­fehlung der Diä­to­login betreffend die Zube­reitung von Fleisch generell lautet: Nicht nur Geba­ckenes schmeckt gut. Braten oder schmoren kommt mit wesentlich weniger Fett aus und führt eben­falls zu her­vor­ra­genden Ergeb­nissen, die in vielen Fällen sogar geschmacks­in­ten­siver und inter­es­santer ausfallen.

Stoffwechselkrankheiten & Übergewicht

Wenn Stoff­wech­sel­er­kran­kungen oder starkes Über­ge­wicht vor­liegen, dann landen Inne­reien aus ver­schie­denen Gründen auf der schwarzen Liste der Diä­to­logie. „Wegen des Cho­le­ste­rin­ge­halts von Inne­reien sollte man bei einer aus­ge­prägten Fett­stoff­wech­sel­störung, einer Fett­leber oder Adi­po­sitas am besten darauf ver­zichten“, betont Eisen­berger, „Zwar wird der Cho­le­ste­rin­spiegel im Blut durch den Verzehr cho­le­ste­rin­reicher Lebens­mittel auf­grund ver­schie­dener Regu­la­ti­ons­me­cha­nismen nur wenig beein­flusst, es sind jedoch etwa 20 Prozent des Cho­le­sterins im Blut dadurch zu erklären.“

Hyper­urikämie und Neigung zu Gicht­an­fällen sind eben­falls Gründe von Inne­reien abzu­raten. Doch nicht nur Inne­reien weisen erhöhte Purin­ge­halte auf. Auch Mus­kel­fleisch und Suppen, besonders unter Ver­wendung von Knochen, sollten bei erhöhtem Harn­säu­re­spiegel gemieden werden. Andere Lebens­mittel wie zum Bei­spiel Hül­sen­früchte ent­halten eben­falls Purine, wobei deren Gehalt zwar nur bei einem Zehntel des Spit­zen­reiters Kalbs­bries liegt – die Por­ti­ons­größen von Hül­sen­früchten sind im All­ge­meinen aber wesentlich größer.

Auch bei rheu­ma­ti­schen Erkran­kungen kann es sinnvoll sein, auf Inne­reien zu ver­zichten. Dazu Eisen­berger: „Leber und Niere zum Bei­spiel sowie tie­rische Fette über­haupt ent­halten größere Mengen von Arach­idon­säure, die ja pro-​entzündlich wirkt und die Beschwerden daher ver­stärken kann.“ Dabei ist aller­dings anzu­merken, dass Inne­reien hin­sichtlich des Arach­idon­säu­re­ge­halts im Ver­gleich zu einem Sup­penhuhn als harmlos gelten können.

Und der hohe Nähr­stoff­gehalt von Inne­reien? Inne­reien sind reich an Eiweiß, Vitamin A, B, C und Fol­säure sowie Mine­ral­stoffen wie Zink und Eisen. Heute stehe eine so große Vielfalt von Lebens­mitteln zur Ver­fügung, dass man zur Deckung des Nähr­stoff­be­darfs nicht auf Inne­reien ange­wiesen sei, stellt Eisen­berger fest.

Die Ernährungswissenschaft

Woran könnte es liegen, dass Inne­reien heute so selten auf den Tisch kommen? Eine wichtige Rolle dürfte der Preis für edle Fleisch­stücke sein, die über die Zeiten teuer, einem kleinen, pri­vi­le­gierten Per­so­nen­kreis vor­be­halten und damit auch ein Sta­tus­symbol waren. Heute sind sie im Ver­hältnis wesentlich bil­liger und für sehr viel mehr Men­schen leistbar.

Für die Abkehr von Inne­reien lassen sich aber noch weitere Gründe aus­machen, weiß die Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­terin Mag. Andrea Fičala aus Wien: „Der inten­sivere Geruch, die dunk­leren und häufig blu­tigen Teile – das wird heute von vielen als ‚nicht sauber‘ emp­funden und abge­lehnt. Die in den Fleisch­theken der Super­märkte ange­bo­tenen hellen Stücke erinnern uns nicht an den Prozess des Schlachtens, die meisten Men­schen möchten damit auch nicht kon­fron­tiert werden.“ Auch die geschmack­lichen Vor­lieben haben sich geändert. „Der intensive und häufig eher bittere Geschmack hält viele davon ab, Inne­reien zu essen“, so Fičala. Heute werde vor allem sehr salzig und sehr süß gewürzt. Schließlich sind einige Tra­di­tionen weit­gehend in Ver­ges­senheit geraten, die früher mit dem Verzehr nicht edler Fleisch­teile ver­bunden waren. Man denke nur an den „Sau­schädel“ zu Neujahr.

Großes Plus Nachhaltigkeit

Von den Gründen, die für die Ver­wertung mög­lichst vieler Teile eines Tieres als Nahrung sprechen, hat heute vor allem ein Aspekt her­aus­ra­gende Bedeutung: die Nach­hal­tigkeit. Fičala: „Wir pro­du­zieren einen großen Über­schuss an nicht edlen Teilen von Schlacht­tieren, die zumeist als Tief­kühlware in andere Länder und Kon­ti­nente expor­tiert und dort billig ver­kauft werden.“ Die Folgen sind mehrfach desaströs. Unter anderem ver­ur­sachen die Trans­porte beträcht­liche Umwelt­be­las­tungen und der niedrige Preis rui­niert den Markt für lokale Pro­du­zenten. „Schließlich stünde es uns auch gut an, aus ethi­schen Gründen wert­schätzend mit Schlacht­tieren umzu­gehen und alle als Nahrung ver­wert­baren Teile auch zu ver­wenden“, ist Fičala überzeugt.

Ändert sich etwas? Eine kleine Trend­wende ist laut Fičala fest­zu­stellen. In Gast­häusern und Restau­rants finden sich wieder öfter tra­di­tio­nelle Gerichte mit Inne­reien auf der Spei­se­karte, Gourmet-​Lokale bieten besondere Spe­zia­li­täten und Eigen­krea­tionen an oder arbeiten über­haupt nach dem Prinzip „Nose to tail“. Fre­quen­tiert werden sie von tra­di­ti­ons­be­wussten Fein­schme­ckern und von Leuten, die neu­gierig und expe­ri­men­tier­freudig sind oder auch aus Über­le­gungen zur Nach­hal­tigkeit heraus ani­miert werden, Gerichte mit Inne­reien zu ver­suchen. Ein Beitrag zu einer Trend­wende kommt auch von der Direkt­ver­marktung von Fleisch in „Paketen“ mit ver­schie­denen Stücken. Manche Pro­du­zenten ermög­lichen bei Schlacht­tagen dabei zu sein und so einen unmit­tel­baren Ein­druck von Her­kunft und Wert des Lebens­mittels Fleisch zu bekommen.

Und wenn man den Geschmack von Inne­reien einfach nicht mag? „Will man das ändern, kann man sich auch langsam daran gewöhnen, indem man einem Gulasch oder Faschiertem einen kleinen Anteil an Inne­reien bei­mischt“, so Fičala. Das Alter spielt übrigens auch eine Rolle: Mit zuneh­mendem Alter wird ein bit­terer Geschmack eher als positiv emp­funden als in jungen Jahren.

Red/​Karin Gruber