Pawlow im Darm

Dezember 2019

Der Darm hat es in den ver­gan­genen Jahren vom Tabu-​Thema zum Hot Topic gebracht. Doch was geht im „Bauchhirn“ wirklich vor? Das Journal für Ernäh­rungs­me­dizin im Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Michael Schemann, Ordi­narius für Human­bio­logie an der TU München und seit Jahren intensiv mit Fragen der Neu­ro­gas­tro­en­te­ro­logie befasst, wobei die neu­ronale Kon­trolle der wich­tigsten Effek­tor­systeme im Magen-​Darm-​Trakt – Mus­ku­latur, Mukosa und Blut­gefäße – im Zentrum der Auf­merk­samkeit steht.

 

Sie haben eine aktuelle Publi­kation „How smart is the gut?“ betitelt. Wie smart ist der Darm wirklich?

Dass der Darm ziemlich smart ist, zeigt sich schon durch die Tat­sache, dass er als ein­ziges Organ außerhalb des Körpers voll funk­ti­ons­fähig ist. Zumindest einige Tage lang bewegt er den Inhalt in die richtige Richtung, in der ent­spre­chenden Geschwin­digkeit und er reagiert auf Reize und zeigt die ihm eigenen Reflexe.

Wenn das enterale Ner­ven­system nun aber die Bezeichnung „Bauchhirn“ oder „zweites Gehirn“ zu Recht bekommen hat, müsste es auch zu Leis­tungen des Groß­hirns wie Lernen, Gedächtnis oder Ver­gessen fähig sein. Sys­te­ma­tisch ist man dieser Frage erstaun­li­cher­weise bisher noch nicht nach­ge­gangen, also haben Paul Enck, Thomas Frieling und ich zahl­reiche Studien dahin­gehend ana­ly­siert. Tat­sächlich gibt es viele Evi­denzen dafür, dass das enterale Ner­ven­system in der Lage ist, zu lernen und dass man es kon­di­tio­nieren kann. Man findet im ente­ralen Ner­ven­system die­selben mole­ku­laren Grund­lagen dafür wie im zen­tralen Ner­ven­system bezie­hungs­weise im „Kopfhirn“. Natürlich müssen iden­tische Moleküle nicht die­selbe funk­tio­nelle Bedeutung haben. Aber es liegt nahe und wir sind auch zu dem Schluss gekommen, dass der Darm tat­sächlich „smart“ ist und zu Leis­tungen analog dem zen­tralen Ner­ven­system fähig.

Lern­pro­zesse gehen im Bauchhirn also tat­sächlich so vor sich wie im Kopfhirn?

Im Prinzip ja. Die klas­si­schen Ver­suche zu den mole­ku­laren Grund­lagen des Lernens wurden von Eric Kandel an der Mee­res­schnecke Aplysia durch­ge­führt, die ihm dann Nobel­preis ein­ge­bracht haben. Bei Aplysia gibt es einen Kie­men­rück­stell­reflex, der immer schwächer wird, wenn man eine Sin­nes­zelle wie­derholt berührt. Umge­kehrt konnte Kandel durch Reizung anderer Ner­ven­zellen eine Sen­si­bi­li­sierung erreichen, also eine ver­stärkte Reaktion, d.h. einen stär­keren Kie­men­rück­stell­reflex. Nun sind Habi­tuation und Sen­si­bi­li­sierung die wesent­lichen Grund­lagen für Lernen, wobei es sich dabei bloß um ein Ver­halten von Ner­ven­zellen handelt. Das hat nichts damit zu tun, wie lange das Erlernte behalten wird.

Jeden­falls hat der Neu­ro­gas­tro­en­te­rologe Terry Smith bei iso­liertem Darm von Meer­schweinchen ein ana­loges Ver­halten – aus­gelöst durch Wand­dehnung und Schleim­haut­be­rüh­rungen – beob­achtet. Das Bauchhirn hat also gelernt. Peter Holzer konnte darüber hinaus zeigen, dass eine Ver­stärkung von Reizen, zum Bei­spiel durch Wie­der­ho­lungen in kür­zeren Abständen, einen so starken Sen­si­bi­li­sie­rungs­effekt haben kann, dass die Wirkung von Medi­ka­menten über­spielt wird. Natürlich geht es hier um impli­zites Lernen, das uns nicht bewusst wird. Aber impli­zites Lernen geht ja auch im Kopfhirn ständig vor sich.

Kann das Bauchhirn auch Erin­ne­rungen spei­chern wie das Kopfhirn?

Das Proxy für Gedächtnis ist die Lang­zeit­po­ten­zierung. Sie ist die Grundlage für die Spei­cherung von Infor­ma­tionen und im Grund genommen auch die Vor­aus­setzung für „echtes“ Lernen. Die mole­ku­laren Vor­gänge dabei sind nicht nur in Kopfhirn und Bauchhirn ver­gleichbar, sondern über die ganze Bio­logie bis hin zu Aplysia.

Das kli­nische Kor­relat eines lang­fris­tigen Lern­ef­fekts des ente­ralen Ner­ven­systems – im Prinzip ja eine Gedächt­nis­leistung wie im Kopfhirn – kann zum Bei­spiel die erhöhte Über­er­reg­barkeit der Darm­nerven noch lange Zeit nach einer abge­klun­genen Infektion oder chemisch-​toxischen Ent­zündung sein.

Erst kürzlich wurde nach­ge­wiesen, dass die Folgen von Stress auf den Darm nicht wie bisher ange­nommen nur so lange anhalten wie die Stress-​Reaktion selbst. Wie Ver­suche mit Mäusen gezeigt haben, bleiben die typi­schen stress­be­dingten Moti­li­täts­stö­rungen des Darms auch außerhalb des Körpers – in der Petri­schale zum Bei­spiel – erhalten. Das heißt nichts weniger als dass das Bauchhirn diese Erfahrung gespei­chert hat. Ver­suche mit Ratten haben darüber hinaus gezeigt, dass eine stress­be­dingte Sen­si­bi­li­sierung des ente­ralen Ner­ven­systems via epi­ge­ne­tische Phä­nomene sogar ver­erbbar ist.

Wie sieht es mit der klas­si­schen Kon­di­tio­nierung aus, den Reflexen nach Pawlow?

Das Lernen durch Asso­ziation, wie es Pawlow mit seinen Hunden gezeigt hat, ist auch auf Ebene des Darms durchaus möglich. Man kann annehmen, dass gas­tro­in­testinale Sym­ptome die Folgen einer solchen Kon­di­tio­nierung sein können. Ein dras­ti­sches Bei­spiel wäre Übelkeit durch Geruch und Geschmack von Nah­rungs­mitteln, die über die Ver­bindung mit einer Übelkeit aus­lö­senden Che­mo­the­rapie ent­standen ist. Weiters ist bei Reizdarm-​Patienten manchmal zu beob­achten, dass schon das Klingeln des Weckers, der die Anfor­de­rungen des Alltags ankündigt, Krämpfe auslöst.

Eine instru­men­telle Kon­di­tio­nierung – also Lernen durch Belohnung und Strafe – wäre auch auf Ebene des Darms durchaus vor­stellbar, wurde bisher aber noch nicht nachgewiesen.

Gibt es weitere Mani­fes­ta­tionen dieser neu­ro­nalen Vor­gänge im ente­ralen Ner­ven­system auf Ebene des kör­per­lichen Befindens?

Es ist nahe­liegend, dass es sich bei einigen funk­tio­nellen Erkran­kungen, für die man bisher keine orga­ni­schen Ursachen gefunden hat, um „Lern­stö­rungen“ im Bauchhirn handelt. Ein Bei­spiel dafür wäre das Reiz­darm­syndrom. Die iden­tische Aus­stattung von zen­tralem und ente­ralem Ner­ven­system mit Ner­ven­zellen, Neu­ro­pep­tiden und Neu­ro­trans­mittern erklärt übrigens auch die gas­tro­in­testi­nalen Neben­wir­kungen der meisten zentral wirk­samen Medikamente.

Wie ist die Ent­stehung des zen­tralen und des ente­ralen Ner­ven­systems des Men­schen ent­wick­lungs­ge­schichtlich zu sehen?

Einer­seits könnte das ente­rische Ner­ven­system ent­standen sein, indem Teile des lim­bi­schen Systems in den Darm gezogen sind. Damit wäre es ein Satellit des lim­bi­schen Systems. Die andere Mög­lichkeit wäre, dass es sich beim Gehirn in Wirk­lichkeit ein enze­pha­li­siertes ente­ri­sches Ner­ven­system handelt. Das wäre evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch auch logi­scher. Gestützt wird diese Hypo­these zum Bei­spiel durch den Süß­was­ser­polyp Hydra, der unter anderem dadurch berühmt geworden ist, weil er auf­grund seiner Rege­ne­ra­ti­ons­fä­higkeit prak­tisch unsterblich ist. Dieses kleine Tier besitzt ein ente­ri­sches Ner­ven­system, hat aber keine Ansätze für zen­trale Gan­glien oder ein Gehirn. Für mich ist das ein starker Hinweis dafür, dass sich das Gehirn aus dem ente­ri­schen Ner­ven­system oder aus darm-​assoziierten Nerven ent­wi­ckelt hat. Wir haben ein Herz-​Kreislauf-​Zentrum im Gehirn, ein Atem­zentrum, vom Gehirn aus­ge­hende Stres­sachsen usw. – aber wir haben keine spe­zia­li­sierte Region zur Steuerung der Darm­ak­ti­vität. Viel­leicht hat es irgendwann Tiere gegeben, bei denen das anders war, ich vermute aber nicht.

Die Darm-​Hirn-​Achse ist eben­falls sehr beliebt als For­schungs­thema und Gesprächsstoff.

Besonders intensiv dis­ku­tiert werden derzeit die Zusam­men­hänge zwi­schen Mikro­biota, Darm-​Hirn-​Achse und der damit ein­her­ge­hende Ein­fluss auf Emotion und Ver­halten. Da ist aber viel Anek­do­ti­sches dabei. Es gibt nämlich beträcht­liche Lücken im Konzept. Die größte Lücke liegt viel­leicht zwi­schen den Vor­gängen im Darm­lumen und der Darm-​Hirn-​Achse an sich. Hier bräuchte man nämlich noch einen Vermittler.

Zum einen könnte es Blut sein, dessen Rolle in diesem Kontext in letzter Zeit in den Hin­ter­grund gedrängt wurde. Alles, was in den Blut­kreislauf kommt – und im Darm wird ja genug auf­ge­nommen – kann, sofern es die Blut-​Hirn-​Schranke pas­siert, Ein­fluss auf Hirn­funk­tionen haben. Hormone zum Beispiel.

Zum anderen können es nervale Ver­bin­dungen sein, die ja meist mit der Darm-​Hirn-​Achse gleich­ge­setzt werden. Natürlich ziehen einige Nerven vom Darm zum Gehirn. Das sind aber relativ wenige, und die Endungen dieser Nerven sind relativ weit weg vom Epithel. Und Infor­ma­tionen vom Darm enden irgendwo diffus. Hier gibt es jeden­falls noch beträcht­lichen Forschungsbedarf.

Herz­lichen Dank für das Gespräch.

 

Hin­ter­grund

Das zen­trale und das enterale Ner­ven­system bezie­hungs­weise Kopfhirn und Bauchhirn sind struk­turell und funk­tionell ver­gleichbar, kom­mu­ni­zieren mit­ein­ander und reagieren auf­ein­ander. Dabei ist das enterale Ner­ven­system weit­gehend unab­hängig von der Kon­trolle durch das zen­trale Ner­ven­system. Dem­entspre­chend ver­läuft der Daten­aus­tausch zu rund 90 Prozent afferent. Nur wenn Ver­dau­ungs­funk­tionen mit dem Ver­halten des gesamten Orga­nismus koor­di­niert werden müssen wie zum Bei­spiel bei Stress, macht sich das Gehirn als über­ge­ordnete Instanz bemerkbar. Wenn das in wesent­lichen Aspekten enterale Ner­ven­system nun die­selben Ner­ven­zellen und Neu­ro­trans­mitter enthält wie das zen­trale Ner­ven­system, ist es auch zu Leis­tungen des Groß­hirns fähig? Lernen zum Bei­spiel? Erinnern? Ver­gessen? Diese Vor­gänge setzen ja nicht unbe­dingt ein Bewusstsein voraus.