Histamin-​Intoleranz: Ein Zeichen der Zeit

April 2019

Die schwer fass­baren Unver­träg­lich­keits­re­ak­tionen gegenüber Histamin und andere biogene Amine werden unter anderem von modernen Pro­duk­ti­ons­be­din­gungen und Ernäh­rungs­ge­wohn­heiten beein­flusst, die einen Anstieg des Histamin-​Gehalts mit sich bringen. Mit Aus­wir­kungen auf die Mor­ta­lität sind Lebensmittel-​Intoleranzen generell eine Her­aus­for­derung für Dia­gnostik und The­rapie, die es erst zu bewäl­tigen gilt.

Karin Gruber

Mit dem jah­relang gereiften Käse, dem geräu­cherten Fisch­filet, der Salami und dem gehalt­vollen Rotwein nimmt man eine gehörige Portion Histamin ja gerne mit. Aber man tut es häufig auch unfrei­willig mit ver­meintlich fri­schem Gemüse, Obst, Fleisch, Milch­pro­dukten und Fer­tig­ge­richten aller Art. „Man geht davon aus, dass mitt­ler­weile nur mehr rund zehn Prozent der Lebens­mittel wirklich als frisch bezeichnet werden können“, beziffert Assoz.-Prof. Dr. Sandra Holasek von der Meduni Graz. Die meisten werden mehr oder weniger weit trans­por­tiert, mehr oder weniger richtig und lange gelagert, werden ver­ar­beitet, gekühlt, tief­ge­kühlt, auf­ge­wärmt – und irgendwann einmal gegessen. Con­ve­nience und Fast Food bestimmen unser Ernäh­rungs­ver­halten weit­gehend. „Halt­barkeit ist immer mit einer Ver­än­derung von Inhalts­stoffen ver­bunden“, betont die Lei­terin der For­schungs­einheit „Nut­rition and Meta­bolism“, „dabei steigt auch der Gehalt an bio­genen Aminen wie eben Histamin.“ Seit rund 30 Jahren merkbar und messbar. Und das trägt für immer mehr Men­schen zu einem Problem bei, das unter der Bezeichnung Histamin-​Intoleranz bekannt ist.

Beein­flusst und gefördert werden Unver­träg­lich­keits­re­ak­tionen gegenüber Histamin von einer Reihe von Fak­toren. Dazu gehören Lebens­mittel mit einem relativ hohen Gehalt an ver­schie­denen bio­genen Aminen wie Alko­holika, Scho­kolade oder Tee. Zahl­reiche, teil­weise weit ver­breitete, Medi­ka­mente wirken als DAO-​Hemmer (z.B. Ace­tyl­cystein, Met­amizol, Ver­a­pamil) oder als Histamin-​Liberatoren (z.B. Ace­tyl­sa­li­cyl­säure, Diclo­fenac). „Ange­sichts der stei­genden Lebens­er­wartung und des damit meist ver­bun­denen erhöhten Bedarfs an Medi­ka­menten kommt diesem Aspekt eine immer größere Bedeutung zu“, gibt Holasek zu bedenken.

Pragmatisches Vorgehen zählt

Nun wird der Pathome­cha­nismus der Histamin-​Intoleranz in der Fachwelt nach wie vor kon­trovers dis­ku­tiert. Ver­mutet wird eine Abbaustörung, die vor allem die Dia­min­oxidase (DAO) betrifft. „Auch ohne den Pathome­cha­nismus im Detail zu kennen, können Pati­enten bei Ver­dacht auf eine Histamin-​Unverträglichkeit in Hin­blick auf ein geän­dertes Ernäh­rungs­ver­halten sinnvoll beraten werden“, räumen die ansonsten eher kri­ti­schen Autoren der AWMF-​Leitlinie zum Vor­gehen bei Ver­dacht auf Unver­träg­lichkeit gegenüber oral auf­ge­nom­menem Histamin ein (Reese I et al. Allergo J Int 2017; 26: 72–79).

Eine aus­führ­liche Ana­mnese und Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnostik vor­aus­ge­setzt, wird zur Abklärung einer ver­mu­teten Histamin-​Intoleranz einem prag­ma­ti­schen Ansatz folgend im All­ge­meinen die Bestimmung der DAO im Serum und des Hist­amins im Plasma durch­ge­führt. Die erste Säule der Behandlung ist eine Ernäh­rungs­the­rapie in drei Stufen, die von aus­ge­bil­deten Ernäh­rungs­fach­kräften durch­zu­führen ist (Siehe Kasten). Auf­grund sehr großer indi­vi­du­eller Unter­schiede ist die Zusam­men­setzung der Diät auch indi­vi­duell zu erar­beiten. Hier ist Zeit und spe­zi­fi­sches Wissen erfor­derlich. Holasek: „Nah­rungs­mit­tel­un­ver­träg­lich­keiten sind ein Bereich, wo die ärzt­liche Dia­gnostik mehr denn je das inter­dis­zi­plinäre Teamwork braucht und alle Gesund­heits­berufe mit Ernäh­rungs­wissen ein­ge­bunden werden müssen.“

Als medi­ka­mentöse the­ra­peu­tische Optionen neben der Ein­haltung einer ent­spre­chenden Diät wird eine zeit­weilige Behandlung mit H1/​H2-​Rezeptorblockern ange­führt – für den Akutfall, aber auch, um etwaige Ver­än­de­rungen des Beschwer­de­bildes fest­stellen zu können – sowie die Anwendung von DAO-Präparaten.

Vielbeschäftigtes Enzym

Es wird ja ver­mutet, dass es sich bei der Histamin-​Intoleranz um einen Sym­ptom­komplex handeln könnte, der nur in ein­zelnen Fällen auf Histamin allein zurück­zu­führen ist. Die Dia­min­oxidase ist in den Abbau ver­schie­dener anderer bio­gener Amine wie Sero­tonin oder Tyramin und Poly­amine wie Sper­midin involviert.

Vor diesem Hin­ter­grund sind auch die Ergeb­nisse einer aktu­ellen retro­spek­tiven Unter­su­chung der Grazer For­scher­gruppe zu sehen (Lackner S et al. Eur J Clin Nutr 2019; 73: 102–104). Im Mittel 13 Monate nach Behand­lungs­beginn wurde an ins­gesamt 101 Ambu­lanz­pa­ti­enten mit einer dia­gnos­ti­zierten Histamin-​Intoleranz ein Fra­ge­bogen ver­teilt. Ziel war es, die Com­pliance mit den Ernäh­rungs­emp­feh­lungen mit den DAO-​Werten im Serum in Beziehung zu setzen. In den 63 retour­nierten Fra­ge­bögen berichtete der Großteil der Pati­enten (n=50), dass sich die Beschwerden gebessert hätten oder nicht mehr vor­handen wären. Nachdem die Pati­enten in vier Compliance-​Gruppen unter­teilt worden waren, zeigte sich, dass die DAO-​Spiegel in den Gruppen mit einer strikten oder zumindest teil­weisen Ein­haltung der Histamin-​reduzierten Diät am stärksten gestiegen waren.

Die Dia­min­oxidase dürfte auch in andere Stoff­wech­selwege invol­viert sein, die eben­falls mit Unver­träg­lich­keits­re­ak­tionen in Ver­bindung stehen könnten. So wurde zum Bei­spiel ein Zusam­menhang zwi­schen nied­rigem DAO-​Spiegel und Nicht-​Zöliakie-​Gluten-​Sensitivität gezeigt (Schnedl WJ et al. Inflamm Res 2018; 67: 279–284). „Es deutet viel darauf hin, dass wir in vielen Fällen Krank­heits­bilder antreffen, denen eine Kom­bi­nation von Enzym­de­fekten zugrunde liegt, die wir noch nicht kennen“, resü­miert Holasek. Die Dia­min­oxidase als allei­nigen Marker einer Histamin-​Intoleranz zu sehen greife sicher zu kurz.

Ernährungsassessment

Ein zen­traler Ansatz­punkt zur Klärung offener Fragen und einer bes­seren auf die indi­vi­duelle Situation und Bedürf­nisse abge­stimmten Dia­gnostik von Nah­rungs­mit­tel­un­ver­träg­lich­keiten ist das Ernäh­rungs­as­sessment. Holasek: „Es ist eine dring­liche und wichtige Aufgabe, neue Instru­men­tarien zu ent­wi­ckeln, um das Ernäh­rungs­ver­halten in Hin­blick auf zum Bei­spiel biogene Amine besser abbilden zu können.“ Schließlich werden immer mehr Daten publi­ziert, die zeigen, dass nicht dia­gnos­ti­zierte Into­le­ranzen nicht nur Lebens­qua­lität und Gesundheit beein­flussen, sondern letztlich auch in die Mor­ta­li­tätsrate hin­ein­spielen. Die kor­rekte Dia­gnose von Nah­rungs­mit­tel­in­to­le­ranzen hat somit auch Ein­fluss auf die Länge des Lebens. „Hier hätten wir eine Chance, mit der Ernährung ein­greifen zu können, aller­dings fehlen uns heute noch die Instru­mente dafür“, bedauert Holasek.

Dreistufige Ernährungstherapie im Überblick

Bei einem begrün­deten Ver­dacht auf eine Histamin-​Intoleranz hat sich in der Praxis eine stu­fen­weise Umstellung der Kost bewährt. Wie die Erfahrung zeigt, pro­fi­tieren die Pati­enten von einer indi­vi­du­ellen Beratung, Hil­fe­stellung und Begleitung beim Aus­testen der per­sön­lichen Tole­ranz­schwelle am meisten. Listen von Lebens­mitteln und ihrem Hist­amin­gehalt alleine genügen nicht. Eine besonders intensive Auf­klärung benö­tigen meist über das Internet vor­in­for­mierte Pati­enten. Die Mehrzahl der Betrof­fenen ver­trägt letztlich hist­amin­hältige Nah­rungs­mittel in mode­raten Mengen, vor allem, wenn diese auf mehrere Mahl­zeiten am Tag ver­teilt werden.

- Karenz­phase. Die Ernäh­rungs­the­rapie beginnt mit einer maximal zwei­wö­chigen Karenz­phase. Dabei werden abge­sehen von hist­amin­reichen Nah­rungs­mitteln (Fisch­kon­serven, geräu­cherter, mari­nierter nicht ganz fri­scher Fisch, lang­ge­reifte Käse­sorten, Roh­milchkäse, Roh­wurst, milch­sauer ein­ge­legtes Gemüse, Rotwein, Sekt) auch Nah­rungs­mittel, die andere biogene Amine wie Tyramin, Sero­tonin, Cada­varin, Tryp­tamin, Put­rescin oder Spermin ent­halten, aus­ge­schlossen. Eine Schwie­rigkeit besteht darin, dass der Hist­amin­gehalt ein und des­selben Nah­rungs­mittels je nach Rei­fegrad, Lager­dauer und Ver­ar­beitung (Hygiene) stark schwankt. Übrigens enthält die heute ver­wendete Bäckerhefe ent­gegen noch immer weit ver­brei­teter Annahme keine nen­nens­werten Mengen Histamin. Brot ist gut ver­träglich, das gilt auch für fein­ver­mahlene Voll­korn­brot­sorten. Auf alko­ho­lische Getränke muss in der Karenz­phase gänzlich ver­zichtet werden. Kommt es unter der Eli­mi­na­ti­onskost zu einer deut­lichen Bes­serung der Sym­ptome, liegt sehr wahr­scheinlich eine Histamin-​Intoleranz vor.

- Test­phase. In der Test­phase werden „ver­dächtige“ Nah­rungs­mittel in kleinen Mengen wieder in den Spei­seplan auf­ge­nommen. Wichtig dabei ist, die Ver­träg­lichkeit ins­be­sondere auch von Nah­rungs­mit­tel­kom­bi­nation unter indi­vi­du­ellen Ein­fluss­fak­toren (Stress, Medi­ka­mente, Mens­truation usw.) zu testen. Je geringer die Menge des ein­ge­führten Lebens­mittels, desto wahr­schein­licher ist es, dass der beschwer­de­freie Zustand erhalten bleibt. Zu Beginn sollte pro Tag nur ein Lebens­mittel auf deren Ver­träg­lichkeit getestet werden. Bei Sym­ptom­freiheit kann ent­weder die Menge gesteigert werden oder auch ein wei­teres hist­amin­reiches Nah­rungs­mittel am selben Tag, bzw. letzt­endlich auch zu einer Mahlzeit aus­pro­biert werden. Welches hist­amin­reiche Nah­rungs­mittel als erstes getestet wird, hängt von den Wün­schen des Pati­enten ab (z.B. 1 Stück Tomate oder 1 Rippe Scho­kolade oder 2 Blatt Roh­schinken bzw. Hartkäse, …). Die Test­phase dauert mehrere Wochen und geht fließend in die Lang­zeit­er­nährung über. Das ernäh­rungs­the­ra­peu­tische Ziel neben der Sym­ptom­min­derung sollte vor allem die Min­derung des Lei­dens­drucks durch häufig rigeros ein­schrän­kende Ernäh­rungs­weisen sein.

Karin Spiesz, Diä­to­login, Uni­kli­nikum Salzburg

Kurz gesagt

  • Der Gehalt von Histamin und anderen bio­genen Aminen in Lebens­mitteln nimmt v.a. auf­grund der Pro­duk­ti­ons­weise und Ernäh­rungs­ge­wohn­heiten zu.
  • Die Zahl der Per­sonen mit Über­emp­find­lich­keits­re­ak­tionen gegenüber Histamin steigt, wobei ver­stär­kende Fak­toren, z.B. ver­schiedene Medi­ka­mente, mitspielen.
  • Die Pathome­cha­nismen der Histamin-​Intoleranz sind noch nicht völlig geklärt.
  • Bei Dia­gnose und The­rapie ist der prag­ma­tische Ansatz mit Ernäh­rungs­as­sessment und Ernäh­rungs­the­rapie, ergänzt durch medi­ka­mentöse Hil­fe­stellung, sinnvoll.