Endokrine Disruptoren: Umweltsubstanzen mit Hormonwirkung

September 2019

Die mög­lichen schä­di­genden Wir­kungen von endo­krinen Dis­rup­toren auf Ent­wicklung, Repro­duktion, Wachstum und Stoff­wechsel stellen ein poten­ti­elles Gesund­heits­problem dar.

Mensch und Tier können einer Vielzahl von endokrin wir­kenden Stoffen aus­ge­setzt sein. Natürlich vor­kom­mende endokrin wir­kende Stoffe finden sich als soge­nannte Phy­to­ös­trogene z.B. in Soja. Als Medi­ka­mente gelangen endokrin wirksame Sub­stanzen in der Human­me­dizin zum Einsatz (z.B. Ver­hü­tungs­mittel oder Schilddrüsenhormon-​Ersatzpräparate). Im Gegensatz dazu kann eine uner­wünschte endo­krine Wirkung von Pflan­zen­schutz­mitteln (z.B. DDT [Dichlor­di­phe­nyl­tri­chlor­ethan]), Umwelt­schad­stoffen (z. B. Dioxine, PCB [Poly­chlo­rierte Biphenyle]) sowie von Sub­stanzen in Lebens­mit­tel­kon­takt­ma­te­rialien (z.B. Bis­phenol A [BPA]) oder in Kos­metika (z.B. Parabene) herrühren.

Laut Defi­nition der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sation (WHO) [1] gelten als endo­krine Dis­rup­toren (Endo­crine Dis­rupting Che­micals [EDCs]) jene Sub­stanzen, bei denen ein kau­saler Zusam­menhang zwi­schen der endo­krinen Akti­vität und einer dadurch indu­zierten, schäd­lichen Wirkung besteht. Die EU Kom­mission [2] beschreibt einen Stoff dann als einen mit endokrin schäd­lichen Eigen­schaften, wenn er fol­gende Kri­terien erfüllt: Er zeigt schäd­liche Aus­wir­kungen bei einem intakten Orga­nismus oder seinen Nach­kommen; er weist eine endo­krine Wir­kungs­weise auf; die schäd­lichen Aus­wir­kungen sind eine Folge der endo­krinen Wirkungsweise.

Problematik von Chemikalien

Bedenken in Bezug auf mög­liche schäd­liche Wir­kungen von endo­krinen Dis­rup­toren haben in den letzten Jahren ver­mehrt Beachtung gefunden [3]. Beob­ach­tungen bei Mensch und Wild­tieren deuten darauf hin, dass die Häu­figkeit endokrin bedingter Erkran­kungen und Stö­rungen, ein­schließlich Beein­träch­ti­gungen der Fort­pflan­zungs­fä­higkeit und Ent­wicklung, sowie hor­mon­ab­hän­giger Krebs­arten zunimmt. Gemäß der rezenten, seit Juni 2018 ver­bind­lichen Richt­linie der Euro­päi­schen Union zu hor­monal wir­kenden Stoffen bleibt der stra­te­gische Ansatz der EU im Umgang mit endo­krinen Dis­rup­toren wei­terhin im Vor­sor­ge­prinzip ver­ankert und das Ziel ist die „Mini­mierung unserer Gesamt­ex­po­sition gegenüber endo­krinen Dis­rup­toren unter beson­derer Berück­sich­tigung wich­tiger Lebens­phasen wie Pubertät und Schwan­ger­schaft“ [4].

Zur Beur­teilung des Vor­kommens endo­kriner Dis­rup­toren in Trink­wasser, Grund­wasser und Ober­flä­chen­wasser in Öster­reich unter­suchte die Öster­rei­chische Agentur für Gesundheit und Ernäh­rungs­si­cherheit (AGES) in Zusam­men­arbeit mit dem Umwelt­bun­desamt (UBA) in den Jahren 2017 und 2018 stich­pro­ben­artig öster­rei­chi­sches Trink­wasser (n = 20), Grund­wasser (n = 22) und Ober­flä­chen­wasser (n = 12), letz­teres ein­schließlich von Bade­ge­wässern (n = 5) und Flüssen (n = 7). Wir ana­ly­sierten die 54 Proben auf 28 Para­meter (1512 Ein­zel­mes­sungen) [5]. Die Auswahl der Pro­be­stellen erfolgte risi­ko­ba­siert, auf­bauend auf den Ergeb­nissen des For­schungs­vor­habens „Phar­ma­zeutika und Abwas­ser­in­di­ka­toren in Grund- und Trink­wasser“ [6] im Sinne eines Worst-Case-Szenario.

Getestete Chemikalien

Fol­gende Che­mi­kalien mit bekannter oder ver­mu­teter endokrin dis­rup­tiver Wirkung wurden im Zug der Unter­su­chung getestet.

Östrogene: Östrogene oder Estrogene sind zen­trale weib­liche Sexu­al­hormone, die im Körper vor allem als Est­radiol, Estriol oder Estron spe­zi­fische Funk­tionen ausüben. Seit vielen Jahr­zehnten werden syn­the­tisch her­ge­stellte Östrogene (z.B. Ethi­nyl­est­radiol) zur Emp­fäng­nis­ver­hütung bzw. zur Hor­mon­be­handlung in der Meno­pause ange­wandt. Nach oraler Auf­nahme von syn­the­ti­schen Östro­genen zeigen diese eine gegenüber Est­radiol ver­stärkte Wirkung und werden dann ähnlich wie dieses in der Leber abgebaut.

Tri­closan: Tri­closan gehört zur che­mi­schen Stoff­gruppe der poly­chlo­rierten Phen­oxy­phenole und wird als anti­mi­kro­bieller Wirk­stoff in einer breiten Palette von Gebrauchs­ge­gen­ständen als Kon­ser­vie­rungs­stoff eingesetzt.

Bis­phenole: Bis­phenole sind che­mische Ver­bin­dungen aus der Gruppe der Diphenylmethan-​Derivate. Unter­sucht wurde auf Bis­phenol A (BPA) und Bis­phenol S (BPS). BPA ist Bestandteil vieler Pro­dukte des täg­lichen Gebrauchs wie Plas­tik­fla­schen oder Epoxidharz-​Bodenbeschichtungen. BPS wird unter anderem als Bestandteil von Epoxid­harzen und als Anti­kor­ro­si­ons­mittel verwendet.

Per­flu­or­al­kyl­sub­stanzen: Per­fluo­rierte Alkyl­ver­bin­dungen (PFAS) haben keine natür­liche Quelle. Unter­sucht wurde auf Per­fluo­roc­tan­säure (PFOA) und Per­fluo­roc­tan­sul­fon­säure (PFOS). Diese werden in zahl­reichen Ver­brau­cher­pro­dukten ein­ge­setzt, bei­spiels­weise in wasser‑, schmutz- und fett­ab­wei­senden Aus­rüs­tungen von Tep­pichen, Kleidung und Koch­ge­schirr mit Anti­haft­be­schichtung. His­to­risch wurde für PFAS auch die Bezeichnung Per­fluo­rierte Tenside (PFT) verwendet.

Poly­bro­mierte Diphe­nyl­ether: Poly­bro­mierte Diphe­nyl­ether (PBDE) sind brom­haltige orga­nische Che­mi­kalien, die als Flamm­schutz­mittel in vielen Kunst­stoffen und Tex­tilien ein­ge­setzt werden. Unter­sucht wurde auf 2,2 ‚, 4,4′, 6‑Pentabromdiphenylether (BDE 100); 2,2′, 4,4′, 5,5 ‚- Hex­ab­rom­di­phe­nyl­ether (BDE 153); 2,2 ‚, 4,4′, 5,6′-Hexabromdiphenylether (BDE 154); 2,4,4′-Tribromdiphenylether (BDE 28); 2,2 ‚, 4,4′-Tetrabromdiphenylether (BDE 47); 2,2 ‚, 4,4’, und 5‑Pentabromdiphenylether (BDE 99).

Phthalate: Phthalate sind Ester der Phthal­säure mit ver­schie­denen Alko­holen. Unter­sucht wurde auf Ben­zyl­bu­tyl­phthalat (BBP), Di-(2‑ethylhexyl) phthalat (DEHP), Diiso­de­cyl­phthalat (DIDP), Diison­o­nyl­phthalat (DINP), Di-​n-​Butylphthalat (DBP), Di-​n-​Octylphthalat (DNOP), Diethyl­phthalat (DEP) und Dime­thyl­phthalat (DMP). Der über­wie­gende Teil der Phthalate wird als Weich­macher für Kunst­stoffe wie PVC, Nit­ro­cel­lulose oder syn­the­ti­schen Gummi ver­wendet. Dimethyl‑, Diethyl- und Dibu­tyl­phthalat kommen auch als Bestandteil von Kos­metik oder Kör­per­pfle­ge­mitteln zum Einsatz.

Alkyl­phenole: Alkyl­phenole sind Vor­stufen und Abbau­pro­dukte der wasch­ak­tiven Alkyl­phe­no­le­th­oxylate (nich­tio­nische Tenside). Unter­sucht wurde auf 4‑tert-​Octylphenol, Octylphenol-​monoethoxylat, Octylphenol-​diethoxylat, 4‑n-​Nonyphenol, Nonylphenol-​monoethoxylat und Nonylphenol-diethoxylat.

Vorkommen in Wasserproben

Keine der Proben wies Östrogene oder Tri­closan in nach­weis­baren Mengen auf.

BPA wurde in vier Trink­was­ser­proben, in einer Grund­was­ser­probe und in einer Bade­ge­wäs­ser­probe nach­ge­wiesen. Zwei Trink­was­ser­proben über­schritten dabei mit Kon­zen­tra­tionen von 20,9 ng/​l und 13,1 ng/​l den in einem EU Richt­li­ni­en­vor­schlag über die Qua­lität von Wasser für den mensch­lichen Gebrauch genannten Grenzwert von 0,01 μg/​l (=10 ng/​l) [7].

PFOS wurde in sieben Trink­was­ser­proben, vier Grund­was­ser­proben, in einem Fließ­ge­wässer und in einem Bade­ge­wässer nach­ge­wiesen. PFOA wurde in drei Trink­was­ser­proben, sieben Grund­was­ser­proben, zwei Bade­ge­wässern und in einem Fließ­ge­wässer gefunden. In allen Proben lagen die Werte unter den gel­tenden Richt­werten. Die im bereits genannten Vor­schlag [7] als Grenzwert für per­fluo­rierte Alkyl­ver­bin­dungen ange­führten 0,1 μg/​l wurden nicht über­schritten.  Der ‚Panel on Con­ta­mi­nants in the Food Chain‘ (CONTAM) der Euro­päi­schen Lebens­mit­tel­si­cher­heits­be­hörde (EFSA) hat in einer rezenten Stel­lung­nahme eine tole­rierbare wöchent­liche Auf­nahme (TWI) für PFOA von 6 ng/​kg Kör­per­ge­wicht, und für PFOS von 13 ng/​kg Kör­per­ge­wicht pos­tu­liert [8]. Wenn man das Zutei­lungs­konzept der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sation (WHO) [9] anwendet, resul­tieren für PFOA in Trink­wasser daraus Para­me­ter­werte von 0.0051 µg/​l (= 5,1 ng/​l) (bei Erwach­senen) und 0.0011 µg/​l (= 1,1 ng/​l) (bei Säug­lingen); für PFOS in Trink­wasser 0.0111 µg/​l (= 11,1 ng/​l) (für Erwachsene) und 0.0025 µg/​l (= 2,5 ng/​l) (für Säug­linge). Die derart errech­neten Grenz­werte für PFOA in Trink­wasser wären bei PFOA für Säug­linge in drei (15,0 %) und für Erwachsene in zwei (10 %) Proben über­schritten gewesen; bei PFOS für Säug­linge in zwei (10,0 %) Proben und für Erwachsene in einer (5,0 %) Probe. Die gemes­senen Spit­zen­werte waren für PFOA 10,7 ng/​l und für PFOS 43,3 ng/​l.

Poly­bro­mierte Diphe­nyl­ether (PBDE) wurden an neun von 22 Grund­was­ser­mess­stellen (BDE 47, 99, 100, 154) und neun von 20 Trink­was­ser­mess­stellen (BDE 28, 47, 99, 153, 154) gefunden. Die höchsten Werte lagen bei 0,62 ng/​l in einer Grund­was­ser­probe und bei 0,49 ng/​l im Trink­wasser (jeweils BDE 47). Diese Gehalte lagen deutlich unterhalb gesi­cherter human­to­xi­ko­lo­gi­scher Relevanz.

Ein­zel­stoffe aus der Gruppe der Phthalate wurden in zwei Trinkwasser-​Proben (Di-​n-​butylphthalatat, Diethyl­phthalat), in fünf Grundwasser-​Proben 16 (Di-(2‑ethyhexyl)phthalat, Di-​n-​butylphthalatat, Diethyl­phthalat, Ben­zyl­bu­tyl­phthalat, Dime­thyl­phthalat), in zwei Bade­ge­wässern (Di-(2‑ethyhexyl)phthalat, Diethyl­phthalat), sowie in zwei Fließ­ge­wässern (Diethyl­phthalat, Dime­thyl­phthalat) nach­ge­wiesen. Auch diese Gehalte lagen deutlich unterhalb gesi­cherter human­to­xi­ko­lo­gi­scher Relevanz.

Diskussion

Die Ergeb­nisse unserer Studie lie­ferten eine Daten­grundlage über das Auf­treten von poten­tiell endokrin dis­rup­tiven Stoffen in öster­rei­chi­schem Trink­wasser, Grund­wasser und Ober­flä­chen­ge­wässern. In 39 der im Rahmen einer Worst-​Case-​Betrachtung aus­ge­wählten 54 Proben (72,2 %) wurde min­destens ein endokrin schäd­licher oder poten­ziell endokrin schäd­licher Stoff gefunden, wenn­gleich auch „nur“ im Bereich von Nano­gramm pro Liter. Zwei der zwanzig im Rahmen unsere Studie unter­suchten öster­rei­chi­schen Trink­was­ser­proben ent­hielten BPA Kon­zen­tra­tionen über dem von der Euro­päi­schen Kom­mission kürzlich für Trink­wasser vor­ge­schla­genen Grenzwert von 0,01 μg/​l. Dazu kamen noch einige, teil­weise wesent­liche PFOA- und PFOS-​Überschreitungen von Trink­was­ser­grenz­werten – ins­be­sondere jener für Säug­linge und Klein­kinder –, wie sie aus der Stel­lung­nahme eines wis­sen­schaft­lichen Aus­schusses der EFSA ableitbar wären. Diese Ergeb­nisse unter­streichen, dass auch für Öster­reich ein Ziel der öffent­lichen Gesundheit sein muss, die Pro­duktion der massiv in Ver­dacht gera­tenen EDCs weiter zu redu­zieren und ein­zu­schränken und damit die Kon­ta­mi­nation von Trink­was­ser­res­sourcen, die unserer Meinung nach primär durch Abwasser- bzw. Ober­flä­chen­was­ser­be­ein­flussung bedingt ist, zu ver­ringern und schluss­endlich zu eliminieren.

Kontakt

Dr. Werner Brüller,

Dipl. Ing. Dr. Norbert Inreiter,

Univ. Prof. Dr. Franz Aller­berger, Öster­rei­chische Agentur für Gesundheit und Ernäh­rungs­si­cherheit (AGES), Spar­gel­feldstr. 191, 1220 Wien, Öster­reich; Email: franz.allerberger@ages.at

Univ.-Prof. Dr. Christian Egarter, Kli­nische Abteilung für Gynä­ko­lo­gische Endo­kri­no­logie und Repro­duk­ti­ons­me­dizin, Medi­zi­nische Uni­ver­sität Wien, Wäh­ringer Gürtel 18–20, 1090 Wien, Öster­reich; Email: christian.egarter@meduniwien.ac.at

Lite­ratur

1. Bergman A, Heindel JJ, Jobling S, Kidd KA und Zoeller RT (Eds.) State of the Science of Endo­crine Dis­rupting Che­micals – 2012. United Nations Envi­ronment Pro­gramme and the World Health Orga­nization, Geneva (2013) 2. Ver­ordnung (EU) 2018/​605 der Kom­mission vom 19. April 2018 zur Änderung von Anhang II der Ver­ordnung (EG) Nr. 1107/​2009 durch die Fest­legung wis­sen­schaft­licher Kri­terien für die Bestimmung endo­krin­schäd­licher Eigen­schaften; 20.4.2018, L 101/​33 (2018) 3. Für­hacker M. Endo­krine Dis­rup­toren – eine kom­plexe Her­aus­for­derung. Öster­rei­chische Wasser- und Abfall­wirt­schaft. 69: 317–326 (2017) 4. Euro­päische Kom­mission. Endo­krine Dis­rup­toren: Eine Stra­tegie der Zukunft zum Schutz von EU-​Bürgerinnen und ‑Bürgern und der Umwelt. Euro­päische Kom­mission – Pres­se­mit­teilung IP/​18/​6287, Brüssel, 7. Nov. (2018)  5.Brueller W et al. (2018) Occur­rence of che­micals with known or suspected endo­crine dis­rupting activity in drinking water, ground­water and surface water, Austria 2017/​2018. Boden­kultur. 69:155–173 (2018)6. Humer F, Inreiter N. Moni­to­ring­pro­gramm von Phar­ma­zeutika und Abwas­ser­in­di­ka­toren in Grund- und Trink­wasser. For­schungs­projekt Umwelt­bun­desamt und AGES im Auftrag des Bun­des­mi­nis­te­riums für Gesundheit, End­be­richt Juni 2015, ISBN 978–3‑902611–97‑0, Wien (2015) 7. Pro­posal for a Directive of the European Par­liament and of the Council on the quality of water intended for human con­sumption (recast). COM (2017) 753 final. Brussels, 1 Febr. (2018) 8. EFSA CONTAM Panel (EFSA Panel on Con­ta­mi­nants in the Food Chain) (2018) Sci­en­tific Opinion on the risk to human health related to the pre­sence of per­fluo­rooctane sul­fonic acid and per­fluo­rooc­tanoic acid in food. EFSA Journal 2018; 16(12):5194, 284 pp. https://doi.org/10.2903/j.efsa.2018.5194. 9. World Health Orga­nization. Gui­de­lines for drinking-​water quality: fourth edition incor­po­rating the first addendum. Geneva. Licence: CC BY-​NC-​SA 3.0 IGO (2017)