Adipositas im Kindes- und Jugendalter: Eine der gefährlichsten Erkrankungen unserer Zeit

Mai 2019

Adipositas im Kindes- und Jugendalter stellt ein weltweites bedrohliches Gesundheitsproblem dar. Die Erkrankung wird in jungen Jahren vielfach nicht diagnostiziert und nicht adäquat behandelt.

Karin Fallmann, Kurt Widhalm

 

Adipositas (= Fettsucht) ist in industrialisierten Ländern bereits zur größten Gesundheitsbedrohung im Kindes- und Jugendalter geworden. Mit einer Prävalenz von 20 bis 40 % in Industriestaaten stellen Adipositas und Übergewicht heute ein dramatisches Gesundheitsproblem mit steigender Tendenz dar. Vor allem aufgrund der großen Sekundärmorbidität müssen Übergewicht und Adipositas als ernstzunehmende Krankheiten angesehen werden (WHO). Bei Kindern und Jugendlichen ist eine exakte Trennung zwischen „gutem Ernährungszustand“ und „Überernährung“ bzw. „Fettsucht“ schwierig. In der Praxis wird die Diagnose des Übergewichts im Kindesalter eher nach dem Aussehen des Kindes als anhand von klar festgelegten Kriterien gestellt.

Definition

Adipositas ist als „über das normale Maß hinausgehende Ansammlung von Fett im subkutanen und in anderen Geweben“ definiert. Diese einfache Definition macht in der Praxis jedoch größere Schwierigkeiten, da der Übergang von „noch normal“ in „bereits übergewichtig“ fließend ist, und die Anwendung unterschiedlicher Kriterien bzw. Messmethoden sehr unterschiedliche Ergebnisse liefert.

Zur Beurteilung von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter wird laut AGA (Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter) analog zum Erwachsenenalter der Body Mass Index empfohlen. Die Erhebung soll anhand von BMI-Perzentilkurven erfolgen (Abb. 1 und 2, Tab. 1).

Ein besonderes Problem stellt die extreme (morbide) Adipositas dar, deren Prävalenz in Mitteleuropa nach neuesten Untersuchungen im Steigen begriffen ist. In Wien liegt die Prävalenz je nach ethnischer Zugehörigkeit bei 1,6 bis 3%. Segna D. et al, 2012

Charakteristika der morbiden Adipositas im Kindes –und Jugendalter

Klinische Charakterisierung

  • BMI >99,5 Perzentile für das Alter
  • Fettmasse >30%
  • Striae diestensae/rubrae
  • Hohe Energiezufuhr – meist über 3500 kcal/d
  • Familiäre Häufung
  • Psychische Probleme, Depression
  • Probleme bei körperlicher Anstrengung
  • Latente Hypertonie

Metabolische Charakterisierung

  • Insulinresistenz bis Prädiabetes
  • Erhöhte Triglycerid- und VLDL-Konzentration, eher mäßig erhöhtes Cholesterin und LDL
  • Endotheliale Dysfunktion (erhöhte vasoaktive Peptide)
  • „Silent Inflammation“ (erhöhtes CRP und andere Entzündungsparameter)
  • Fettleber (NAFLD, NASH)

Weitere mögliche Folgen und Komplikationen u.a.

  • Psychosozial:
  • Geringes Selbstwertgefühl
  • Gestörtes Körperverständnis
  • Mangelnde Selbstkontrolle
  • Depression
  • Fehlende soziale Integration
  • Essstörungen
  • Pulmonal:
  • Schlaf-Apnoe
  • Asthma
  • Muskuloskeletal:
  • Gelenksveränderungen (Schäden an Knorpel, Meniskus etc.)
  • Frakturen
  • Plattfüße

Ätiologie

Genetische Faktoren spielen bei der Entstehung von Übergewicht und Adipositas beim Menschen eine große Rolle (bis zu 60 Prozent). Für extreme Formen von Adipositas (z.B. bei einem Kleinkind) sind monogenetische Ursachen sehr wahrscheinlich. Eine derartige Abklärung ist absolut indiziert (Leptin, MC4, FTO etc.). Adipositas entsteht, wenn die Energiezufuhr den Energieverbrauch über einen längeren Zeitraum übersteigt. Die Ursachen dafür sind sehr vielfältig. Der Appetit kann durch eine Vielzahl von Faktoren, u.a. psychologische Störungen, hypothalamische, hypophysäre sowie andere Läsionen des zentralen Nervensystems sowie durch Hyperinsulinismus beeinflusst werden. Zu den Hauptrisikofaktoren für Adipositas im Kindesalter zählen

  • Übergewicht der Mutter sowie sekundär des Vaters
  • Scheidung der Eltern
  • Familiäre Probleme
  • Soziale Unterschicht
  • Hospitalisierung
  • Körperliche Inaktivität

Strategien der Prävention

Einige Studien zeigen, dass Präventionsprogramme im Kindes- und Jugendalter einen günstigen Effekt auf den BMI haben können. Das Alter von 6 bis 12 Jahren scheint in diesem Zusammenhang besonders günstig zu sein. Folgende Programme und Strategien erweisen sich als sehr günstig.

  • Schulbasierte Interventionen mit Förderung von gesunder Ernährung und körperlicher Aktivität.
  • Steigerung körperlicher Aktivität im Schulalltag.
  • Qualitative Verbesserung der Schulverpflegung.
  • Schaffung einer Umwelt, die Kinder dabei unterstützen soll sich gesünder zu ernähren und täglich körperlich aktiv zu sein.
  • Unterstützung von Lehrern und Erziehern bei der Umsetzung der Gesundheitsförderung.
  • Unterstützung von Eltern bei der Schaffung eines „gesunden Milieus“ innerhalb der Familie.

Strategien der Therapie

Einige Studien zeigen, dass eine wirksame Therapie durchaus möglich ist. Allerdings sind die erreichten Therapieerfolge in den meisten Fällen eher gering, nur kurzfristig, und die Erwartungen der Patienten werden nur selten erfüllt. Die meisten Studien haben zudem methodische Mängel, nur kleine Fallzahlen, eine hohe Abbrecherquote (>50 Prozent) und keine „intention-to-treat-Analyse“. Die optimale Strategie für eine erfolgreiche Adipositas-Therapie muss auf jeden Fall individuell auf Alter und Geschlecht sowie soziökonomischen und kulturellen Hintergrund abgestimmt werden. Am erfolgreichsten ist in diesem Zusammenhang eine kombinierte verhaltensorientierte Lebensstil-Intervention. Nicht evaluierte Therapien machen hingegen nur wenig Sinn. Die Einbindung von Incentives macht die Erfolgswahrscheinlichkeit viel größer. Für extreme Formen von Adipositas (z.B. bei einem Kleinkind) sind monogenetische Ursachen sehr wahrscheinlich. Eine derartige Abklärung ist nicht zuletzt deswegen absolut indiziert (Leptin, MC4, FTO etc.), weil es inzwischen medikamentöse Therapieoptionen für bestimmte Krankheitsbilder gibt.

Conclusio

Adipositas im Kindes- und Jugendalter stellt ein weltweites bedrohliches Gesundheitsproblem dar. Die Erkrankung wird in jungen Jahren vielfach nicht diagnostiziert und nicht adäquat behandelt. Als Folge können eine Reihe chronischer Erkrankungen auftreten wie z.B. Diabetes mellitus, kardiovaskuläre Erkrankungen, Lebererkrankungen u.a.m. Notwendige Maßnahmen zur Prävention sowie Behandlung von Adipositas im Kindes- und Jugendalter sind strukturierte und evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen unter Einbeziehung der Kinder- und Allgemeinärzte, z.B. die Errichtung von Diagnostik- und Therapie-Einrichtungen, die Sensibilisierung der betroffenen Familien sowie der gesamten Öffentlichkeit und eine Beeinflussung der Werbung.

Mag. Karin Fallmann, em. Univ.-Prof. Dr. Kurt Widhalm, Österreichisches Akademisches Institut für Ernährungsmedizin, Alser Straße 14/4a, 1090 Wien

 

Lecture Board:

Univ.-Prof. Dr. Martin Wabitsch, Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm, Deutschland

Univ.-Prof. Dr. Daniel Weghuber, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Uniklinikum Salzburg

 

Ärztlicher Fortbildungsanbieter:

Österreichisches Akademisches Institut für Ernährungsmedizin

 

Literatur:

NCD Risk Factor Collaboration, Worldwide trends in body-mass index, underweight, overweight, and obesity from 1975 to 2016: a pooled analysis of 2416 population-based measurements studies in 128,9 million children, adolescents and adults, Lancet 2017; 390: 2627–2642

D. Segna, H. Widhalm, M.P. Pandey, S. Zehetmayer, S. Dietrich, K. Widhalm, Impact of mother tongue and gender on overweight, obesity and extreme obesity in 24.989 Viennese children/adolescents (2–16 years), Wien. Klin. Wochenschr. 2012; 124 (21–22): 728–788

M. Mayer, A. Gleiss, G. Häusler, M. Borkenstein, K. Kapelari, G. Köstl, M. Lassi, M. Schemper, K. Schmitt, P. Blümel, Weight and body mass index (BMI): current data for Austrian boys and girls aged 4 to under 19 years, Annals of Human Biology 2015: 42(1): 45–55

R. Cooper, S.M. Pinto Pereira, C. Power, E. Hyppönen, Parenteral obesity and risk factors for cardiovascular disease among their offspring in mid-life: findings from the 1958 British Birth Cohort Study, International Journal of Obesity 2013; 37: 1590–1596

H.D. McCarthy, T.J. Cole, T. Fry, S.A. Jebb, A.M. Prentice, Body fat reference curves for children, International Journal of Obesity 2006; 30: 598–602

R. Weiss, M. Shaw, M. Savoye, S. Caprio, Obesity dynamics and cardiovascular risk factor stability in obese adolescents, Pediatric Diabetes 2009; 10: 360–367

K. Kromeyer-Hauschild, M. Wabitsch, D. Kunze, et al, Perzentile für den Body Mass Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben, Monatsschrift Kinderheilkunde 2001; 149: 807–818
M. Wabitsch, A. Moß, Evidenzbasierte (S3-) Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) und der beteiligten medizinischen-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, Berufsverbände und weiterer Organisationen, Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Version 2018 (in Vorbereitung)

S.R. Daniels, D.K. Arnett et al., Overweight in children and adolescents: pathophysiology, consequences, prevention and treatment, Circulation 2005; 111: 1999–2012

C.B. Ebbeling, D.B. Pawlak, D.S. Ludwig, Childhood obesity: public-health crisis, common sense cure; Lancet 2002; 360: 473–482

R. Sinha, G. Fisch, B. Teague, W.V. Tamborlane, B. Banyas, K. Allen, M. Savoye, V. Rieger, S. Taksali, G. Barbetta, R.S. Sherwin, S. Caprio, Prevalence of Impaired Glucose Tolerance Among Children and Adolescents with Marked Obesity, N Engl J Med 2002, 346: 802–810

Buchtipp

Mit dem Erwerb des Buchs tut man nicht nur seinem Gaumen und seiner Gesundheit etwas Gutes, mit jedem Kauf wird auch die St. Anna Kinderkrebsforschung unterstützt.

Mehr Information