Wolfgang Kneifel, Seppo Salminen
Historische Berichte über die gesundheitliche Bedeutung positiv wirksamer Keime reichen bereits in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zurück und beziehen sich einerseits auf deren kompetitive Wirkung gegenüber unerwünschten, pathogenen Mikroorganismen, andererseits aber auch auf Faktoren des subjektiven Wohlbefindens und die allgemeine Darmgesundheit. Die dazu vorhandene, frühe Literatur basiert vor allem auf Erfahrungswerten und nicht auf Studien und wurde im Wesentlichen von einzelnen Persönlichkeiten geprägt, die aufgrund ihrer Beobachtungen und naturgemäß einfachen Experimente zu der Überzeugung gelangt waren, dass die Wechselwirkung zwischen den im Darm vorkommenden sowie absichtlich oder unabsichtlich zugeführten Mikroorganismen und dem menschlichen Organismus einen entscheidenden Einfluss auf den Gesundheitszustand des Menschen ausübt. Auch überlieferte Berichte, auf deren Basis resümiert wurde, dass Personen, die positive Keime (z.B. in Form von Joghurt) regelmäßig konsumierten, weniger oft erkranken oder sogar ein höheres Lebensalter erreichen können, besitzen eine gewisse geschichtliche Bedeutung. Mit diesen Erkenntnissen wurde der eigentliche Grundstein für die heutige Probiotika-Forschung gelegt. Die Bezeichnung „Probiotikum“ stammt aus dem Griechischen („pro bios“ bedeutet „für das Leben“). Dennoch wurde diese Produktgruppe erst viel später genauer und auf wissenschaftlicher Basis definiert. Schon damals spielten jedoch – wie erwähnt – fermentierte Milchprodukte als Träger positiver, lebender Bakterien eine wichtige Rolle, aber auch Keime, die von gesunden Individuen stammend im Labor kultiviert und in Form von Präparaten verabreicht wurden.
Der Begriff „Probiotikum“ wurde 1965 erstmals geprägt: damit beschrieben die beiden Biologen Lilley und Stilwell die wachstumsstimulierende Wirkung von Ziliaten auf Protozoen. Mit diesem Bereich der Biologie war man somit noch sehr weit vom heutigen Einsatzbereich der Probiotika entfernt. Erst rund zwanzig Jahre später nutzte der Engländer Roy Fuller diesen Terminus, um den positiven Einfluss eines mikrobiellen Futtermittelzusatzes auf das damit gefütterte Tier zu beschreiben. Diese Definition war der Beginn einer Serie von einigen textlichen Anpassungen, wobei zunehmend die Bedeutung lebender Mikroorganismen für die menschliche Gesundheit in den Vordergrund rückte. Nach und nach kristallisierten sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts aufgrund von Studien zahlreiche interessante Bakterienstämme heraus, die in der Humanernährung und -medizin, aber auch in der Tierernährung eine besondere Rolle einnahmen. Probiotische Stämme wie Lactobacillus GG (benannt nach seinen beiden amerikanischen Entdeckern Goldin & Gorbach) oder Bifidobacterium Bb12 (ein Stamm, der in Dänemark aufgrund seiner Eigenschaften aus einer umfangreichen Serie von Isolaten ausgewählt wurde) zählten hierbei zu denjenigen Mikroorganismen, die in zahlreichen Produkten zum Einsatz kamen und heute noch verwendet werden. Konzentrierte sich in der Humananwendung der Schwerpunkt der Keimgattungen und Isolate vor allem auf Lactobacillen und Bifidobakterien, so waren bzw. sind in der Tierernährung Gattungen wie Enterococcus, aber auch Bacillus und Hefen ebenfalls relevant. Aktuell definiert die International Scientific Association for Probiotics and Prebiotics (ISAPP) (Hill et al. 2014) den Begriff Probiotika als „lebende Mikroorganismen, die bei ausreichender Zufuhr gesundheitlich positive Effekte auf den Wirtsorganismus ausüben“. Diese sehr allgemeine Definition lässt weitere Entwicklungsmöglichkeiten offen, die sich aufgrund der Fortschritte in der Forschung ergeben können.
Rechtliche Aspekte
Durch die Einführung der EU-Health Claim-Verordnung (Verordnung [EG] 1924:2006) für Lebensmittel wurde den probiotischen Produkten eine besondere Hürde gesetzt. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass in den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche Werbeaussagen zu besonderen gesundheitlichen Effekten von Lebensmitteln getätigt wurden. Insbesondere kamen viele Produkte ohne jegliche wissenschaftliche Bestätigung auf den Markt und nur wenige verfügten über einschlägige wissenschaftliche Studien. Seitens der Europäischen Kommission wurde diese Verordnung daher zum Schutz des Verbrauchers erlassen. Darin wird im Zusammenhang mit gesundheits- oder krankheitsrelevanten Aussagen bei Lebensmitteln ein wissenschaftlich untermauerter Antrag auf offizielle Genehmigung eingefordert. Dieser vom Produkthersteller über die jeweilige nationale Lebensmittelsicherheitsbehörde einzubringende und dann von einem unabhängigen Expertengremium bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) detailliert geprüfte Antrag muss in Bezug auf die Kennzeichnung als Probiotikum (dieser Begriff gilt als gesundheitsspezifische Aussage) folgende zusammengefasste Kriterien berücksichtigen. In der Folge sind Anforderungen an Probiotika gemäß der EU Health Claim-Verordnung angeführt.
- Die für das beantragte Produkt wertgebenden Bakterienstämme müssen nach den neuesten wissenschaftlichen Kriterien mikrobiologisch exakt charakterisiert sein und hinsichtlich ihrer Bezeichnung der aktuell geltenden Nomenklatur entsprechen.
- Die Mikroorganismen müssen die höchsten Sicherheitsansprüche erfüllen, d.h. jegliche unerwünschte Faktoren und/oder pathogene Eigenschaften bzw. übertragbare Antibiotikaresistenzen sind nachweislich auszuschließen. Die EFSA definiert hierzu mit der Bezeichnung „Qualified Presumption of Safety“ (QPS) im Detail auch das Verfahren, anhand dessen die Sicherheitsprüfung zu erfolgen hat. Diese Prüfung verläuft ähnlich zu jenem Procedere, das in den Vereinigten Staaten für die Bewertung als „Generally Recognized as Safe“ (GRAS) Gültigkeit hat. Entscheidend ist dabei überdies, ob es mit den verwendeten Bakterienstämmen bereits langfristige Erfahrungen im Zusammenhang mit einer sicheren Verwendung („History of Safe Use“) gibt. Dazu existiert in Europa inzwischen bereits eine offizielle Liste mit adäquaten Bakterienstämmen, die laufend aktualisiert wird (EFSA 2016).
- Ein zentrales Bewertungskriterium im Rahmen des Zulassungsverfahrens ist die Prüfung wissenschaftlich bestätigter Fakten, die einer bestimmten Wirkung bzw. deren geplanter Auslobung zugrunde liegen. Hierzu sind unabhängige Studien vorzulegen, von denen die gewünschte Aussage schlüssig abgeleitet werden kann. Als Standard werden wissenschaftliche Publikationen in anerkannten, unabhängig begutachteten Zeitschriften gefordert, die auf einem Doppelblind-Placebo-kontrollierten Studiendesign basieren. Trotzdem reichen erfahrungsgemäß selbst solche im Rahmen des Publikationsvorganges von Experten beurteilte Studien nicht immer aus, um dieses weitere Prüfverfahren bei der EFSA zu bestehen, denn derzeit gibt es noch kein einziges Lebensmittel, für welches im Zusammenhang mit Probiotika eine gesundheitsrelevante Werbeaussage offiziell genehmigt wurde.
- Technisch gesehen hängt eine gesundheitliche Wirkung unter anderem maßgeblich von der Stabilität der wertgebenden Keime im Produkt und ebenso während des Verdauungsprozesses ab, damit sichergestellt ist, dass ausreichend viele Bakterienzellen bestimmte Ziele im Darm erreichen. Dies bedeutet, dass probiotische Bakterienstämme nicht nur ein umfassendes Sicherheitsscreening, sondern auch ein intensives Selektionsverfahren hinsichtlich ihrer Stabilitätseigenschaften durchlaufen haben müssen, das sich an den Einsatzzielen orientiert, bevor sie überhaupt in klinischen Studien getestet werden.
- Die Wirkungen von Probiotika sind im Allgemeinen stammspezifisch und können in Bezug auf ihre Eigenschaften hinsichtlich Bakteriengattung und -art nicht verallgemeinert werden. Demzufolge unterscheiden sich jene Bakterienstämme individuell von allen anderen, die dieselbe taxonomische Zuordnung besitzen und verfügen überdies über eine umfassende wissenschaftliche Dokumentation.
Neue Begriffe: Mikrobiota und Mikrobiom
Der probiotischen Wirkung liegt definitionsgemäß die Voraussetzung zugrunde, dass die Zufuhr lebensfähiger, positiver Keime regelmäßig und in entsprechender Zahl erfolgen muss. Unter den verschiedenen Einsatzgebieten und Verabreichungsmodi besitzt die orale Aufnahme in Form von Lebensmitteln oder pharmazeutischen Produkten den höchsten Stellenwert. Demzufolge hängt die probiotische Wirkung wiederum mit dem Verhalten der zugeführten Bakterien im Verdauungstrakt, von deren Wechselwirkungen mit anderen dort vorkommenden Mikroorganismen und mit den damit verbundenen physiologischen sowie immunologischen Reaktionen des Organismus ab. Nicht nur die mikrobielle Vielfalt, sondern auch deren Dichte in unserem Darm spielt hierbei eine enorme Rolle, vor allem wenn man bedenkt, dass der menschliche Körper letztlich um Zehnerpotenzen mehr an Mikroorganismenzellen als körpereigene Zellen beherbergt. Man geht davon aus, dass diese Bakterienmasse des Menschen insgesamt rund 1,5 kg ausmacht, wovon der Großteil im Darminhalt zu finden ist.
In älteren Arbeiten ist diesbezüglich häufig von der „Darmflora“ die Rede, die durch die Zufuhr probiotischer Bakterien beeinflusst werden kann. Diese etwas blumige Beschreibung wurde in den letzten Jahren durch neue Begriffe ersetzt, die nicht nur auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und modernen analytischen Methoden beruhen, sondern die tatsächliche Situation auch treffender beschreiben. Im Vordergrund der heutigen Nomenklatur steht nun der Begriff Mikrobiota, mit dem die Vielfalt der im Körper vorhandenen Mikroorganismen beschrieben wird, während der Begriff Mikrobiom die Gesamtheit des damit verbundenen genetischen Potentials widerspiegelt. Vor dem Hintergrund des im Jahr 2008 in den USA gestarteten Human Microbiome Projects, das sich mit der eingehenden Identifizierung und Charakterisierung der bis dahin teilweise noch großen „mikrobiologischen Unbekannten“ beschäftigte, wurde der Kenntnisstand über die mikrobielle Besiedelung des menschlichen Organismus laufend revolutioniert. Waren in der älteren Literatur ausschließlich jene Keime bzw. Keimgruppen beschrieben worden, die mittels der über viele Jahre hindurch verwendeten kulturellen Nachweismethodik erfasst wurden, ermöglichten die neuen, molekularbiologischen Analysen- sowie Sequenziertechniken, z.B. die Next Generation Sequencing (NGS)-Methodik, eine wesentlich umfassendere Bestimmung des diversen Keimspektrums.
So geht man heute auf Basis der neueren Studien davon aus, dass die Mikrobiota des Menschen mit weit über 1000 verschiedenen Species, die in Summe eine Keimzahl von bis zu 1014 ergibt, wesentlich vielfältiger ist als erwartet. Nahezu alle diese Keime sind anaerob, was letztlich eine plausible Erklärung dafür ist, dass es aufgrund der hohen Sauerstoffempfindlichkeit vieler Mikroorganismen mit Hilfe der früher eingesetzten kulturellen Nachweismethoden nur schwer gelingen konnte, solche Keime zu isolieren, zu kultivieren und zu vermehren. Bei einem internationalen Vergleich der Darmmikrobiota von Erwachsenen hat sich zwar herausgestellt, dass rund 160 Bakterien-Species bei vielen Menschen sehr häufig vorkommen, so ist davon auszugehen, dass sowohl Keimspektrum, als auch -dichte in Abhängigkeit von verschiedenen Einflussfaktoren stark variieren (Qin et al. 2010).
Mikrobiota – Zusammensetzung
So gilt heute als erwiesen, dass neben genetischen Faktoren die ersten Stunden und Tage im Leben des Menschen dafür ausschlaggebend sind, welche Mikrobiota sich im Organismus entwickeln. Im Gegensatz zu früheren Berichten, in denen von einer sterilen Ausgangssituation des Säuglings bei der Geburt die Rede war, konnte unlängst gezeigt werden, dass der Fetus bereits im Fruchtwasser mit Keimen (hier spielen vor allem Propionibakterien eine Rolle) konfrontiert ist (Collado et al. 2016). Bei der Geburt findet sodann eine weitere „Beimpfung“ des Säuglings im Geburtskanal der Mutter statt, aber auch die in der Umgebung vorhandenen Keime zählen zu den ersten „Besiedlern“ des Kindes, das wiederum durch den Stillvorgang mit weiteren Mikroorganismen der Hautoberfläche und der Milch der Mutter in Kontakt kommt (Abb. 1). Es ist somit plausibel, dass eine Kaiserschnittgeburt zu einer anderen mikrobiellen Besiedelung führt als eine natürliche Geburt, insbesondere dann, wenn Mutter oder Kind mit Antibiotika behandelt werden.
Entscheidend für die weitere Ausprägung der Darmmikrobiota beim Säugling ist weiters dessen Ernährung mit Muttermilch, die einerseits nicht nur eine wichtige immunologische Funktion erfüllt, sondern auch zahlreiche Nährstoffe, darunter vor allem bestimmte Oligosaccharide, bereitstellt, die zum Aufbau einer säuglingstypischen Mikroorganismenpopulation im Darm beitragen. Diese Mikrobiota ist vor allem durch die Keimgruppe der Bifidobakterien, einer den Milchsäurebakterien ähnlichen, jedoch taxonomisch differenten Keimgruppe, geprägt, die einen wesentlichen Anteil am Verdauungsprozess und an der Darmgesundheit des Säuglings, letztlich aber auch beim Erwachsenen, besitzen. Die weitere Entwicklung der Mikrobiota in den verschiedenen Lebensabschnitten wird durch Faktoren wie Ernährung, Gesundheitsstatus, Medikamente (man beachte, dass z.B. Antibiotika einen nachhaltigen Einfluss auf die Mikrobiota ausüben) sowie den physiologischen Alterungsprozess beeinflusst, ebenso durch die Lebensweise.
Je nachdem, welche Mikroorganismen den Verdauungstrakt dominieren, spricht man von einer Eubiose, d.h. von einem Zustand, in dem Verdauung und gastrointestinales Wohlbefinden normal, d.h. für den Einzelnen ohne Komplikationen ablaufen, während der Zustand einer Dysbiose die gegenteilige, also ungünstige Situation beschreibt. Über viele Jahre hindurch wurde versucht, diese beiden Begriffe an das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein bestimmter positiv oder negativ wirkender Keimgruppen zu koppeln. Dies ist auf Basis der heutigen Erkenntnisse schwer beweisbar, weil eine rein qualitative Betrachtung der individuellen Situation nicht mehr ausreicht, da neben diesem Kriterium auch Lebensfähigkeit und Dichte der Keime, deren individuelle, metabolische Leistung sowie ihre natürliche Resistenz mit ausschlaggebend sind. In den letzten Jahren ist es überdies gelungen, weitere, neue, bisher noch nicht beschriebene Species nachzuweisen, diese zu isolieren und zu charakterisieren. Es erst graduell möglich geworden, das eigentliche Potential dieser „neuen Keime“ im Gesamtkontext zu durchblicken.
Beispielsweise zählt in diesem Zusammenhang die relativ neu entdeckte Gattung Akkermansia zu den interessantesten Kandidaten, da sie als natürlicher (jedoch bis vor wenigen Jahren unentdeckter) Besiedler der Darmschleimhaut (Mucosa) gilt und dort kompetitive Effekte gegenüber unerwünschten Darmkeimen bewirkt (Gomez-Gallego et al. 2016). Darüber hinaus gibt es starke Indizien dafür, dass Akkermansia muciniphila in der Lage ist, den Metabolismus und Energiestoffwechsel beim Menschen positiv zu beeinflussen, was deren mögliche Bedeutung in einem neuen mikrobiell basierten Ansatz des Gewichtsmanagements in Aussicht stellt (Plovier et al. 2017). Auf Basis der modernen Analytik erhärten sich auch die Fakten, dass Adipöse über eine andere Mikrobiota verfügen als normalgewichtige Personen.
Mikrobiota – Funktionen
Bei systematischer Betrachtung auf Phylum-Ebene ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass einzelne Vertreter der so genannten Bacteroidetes-Gruppe ein enormes Potenzial an Enzymen besitzen, mit Hilfe derer sie den Verdauungsbrei in besonderer Weise aufschließen und damit ein Mehr an Nährstoffen für den Wirtsorganismus bereitstellen können. Für den Betroffenen kann dies eine Gewichtszunahme zur Folge haben. Demgegenüber befinden sich in der Gruppe der so genannten Firmicutes Bakteriengattungen und -arten wie z.B. die Lactobacillen, die eher eine gesundheitliche Relevanz besitzen und insgesamt für weniger „Nährstoffnachschub“ sorgen. Trotz dieser Fakten wird in mehreren Studien berichtet, dass bei Adipösen das Verhältnis zwischen Bacteroidetes und Firmicutes geringer ausgeprägt ist als bei Normalgewichtigen. Darüber hinaus machen vor allem neuere Arbeiten deutlich, dass die Situation wesentlich komplexer sein dürfte und dieser Quotient keine verlässliche Größe, sondern eine zu starke Vereinfachung darstellt (John & Mullin 2016; Komaroff 2017). Nicht geklärt ist überdies, ob diese Phylum-Verteilung als Ergebnis oder als Ursache eines oder mehrerer Prozesse zu sehen ist.
Betrachtet man überdies die wichtige immunologische Bedeutung des Darms, so ist unumstritten, dass bedeutende Funktionen wie die Nährstoffresorption, aber auch immunologisch gesteuerte, mit der Mucosa-Barriere einhergehende Reaktionen aufgrund der großen inneren Oberfläche des Darms eine enorme Tragweite für den Gesundheitszustand des Menschen besitzen. Der Faktor Darmgesundheit wird daher häufig mit einem natürlichen Gleichgewichtszustand, der sogenannten Homöostase, umschrieben. Da die meisten gastrointestinalen Probleme und Erkrankungen ihre Ursache in einer Störung der gastrointestinalen Barriere haben, ist die Anwendung von Probiotika zur Aufrechterhaltung dieser Funktion oder zur korrigierenden Behandlung bei vorhandenen Störungen eine interessante Option (Bron et al. 2017). Interessanterweise hatten sich zum Thema Probiotika über viele Jahre hindurch viele Forschungsaktivitäten auf physiologische Effekte im Dickdarm und den Faeces konzentriert. Inzwischen ist man aber zu der Erkenntnis gelangt, dass aufgrund seiner enormen physiologischen Bedeutung auch dem Dünndarm mit seiner typischen Mikrobiota eine sehr große Bedeutung zukommt.
Wirkung von Probiotika
Zur Wirkung von Probiotika wurden in den letzten dreißig Jahren unzählige Studien veröffentlicht, die im Grunde genommen ein sehr breites Einsatzgebiet aufzeigen. Dennoch sind aus aktueller Sicht nicht alle beschriebenen Effekte so umfassend untersucht, dass sie aus medizinischer Sicht als evidenzbasiert gelten können. Die klinische Forschung zeigt einen starken Fokus auf zwei Hauptbereiche, und zwar die gastrointestinal und immunologisch relevanten Anwendungsziele. Beide stehen überdies miteinander in Zusammenhang.
Tabelle 1 gibt eine komprimierte Übersicht über die in klinischen Studien gezeigte Wirksamkeit von Probiotika. Die statistische Bewertung der Studien in Form von Metaanalysen bestätigt, dass generelle Aussagen über bestimmte Positiveffekte weder im Zusammenhang mit der Darmgesundheit noch mit dem Immunsystem möglich sind. In Abhängigkeit vom individuell verwendeten Probiotikum (Bakterienstamm, Bakterienstammmischung, probiotische Hefe), ist es bei hoher Zufuhrdosis möglich, akute gastroenterale Störungen erfolgreich zu behandeln. Überdies hängt die Wirkung naturgemäß auch davon ab, welche Ursache für die gastrointestinale Störung verantwortlich ist. So ist hervorzuheben, dass im Falle eines bakteriell-infektiösen Geschehens Probiotika Antibiotika keinesfalls ersetzen können, jedoch zeigen auf Basis der statistischen Daten begleittherapeutische oder präventive Effekte einer regelmäßigen Probiotikazufuhr während oder unmittelbar nach einer Antibiotikatherapie eine gute Wirkung. Hier kann etwa das Risiko an einer Antibiotika-assoziierten Diarrhoe (sehr oft spielt hier Clostridium difficile als ein nach Antibiotikatherapie aufkommender Schadkeim eine bedeutende Rolle) deutlich (um > 60%) reduziert werden.
Die sehr häufig auftretende Frage der effektiv wirksamen Probiotika-Dosis ist nicht eindeutig geklärt, auch wenn die Definition des Begriffes Probiotikum vorgibt, dass die Menge ausreichend hoch sein sollte. In einer neueren Studie wird dieser quantitative Faktor kritisch analysiert und anhand der geprüften Studiendaten mit rund 1010 koloniebildenden Einheiten pro Tag angegeben. Es ist daher davon auszugehen, dass positive Effekte nicht nur mit einer möglichst hohen, sondern auch regelmäßigen Probiotika-Zufuhr zusammenhängen – obwohl die Datenlage manchmal widersprüchlich erscheint und die Tatsache, dass z.B. bei Kleinkindern eine Dosis von 108 koloniebildenden Einheiten dennoch ausreicht, um eine nekrotisierende Enterocolitis erfolgreich behandeln zu können, ein etwas anderes Bild zeigt.
Bei der Behandlung von Helicobacter pylori-Infektionen des Magens nehmen Probiotika ebenfalls eine bedeutende Stellung ein. So zeigen manche probiotische Stämme eine direkte antagonistische Aktivität gegenüber diesem Schadkeim, und die diesbezügliche Studienlage weist darauf hin, dass Probiotika heute als wichtiger Baustein in der Eradikationstherapie von Helicobacter pylori (z.B. in Kombination mit Antibiotika) anzusehen sind und Remissionen längerfristig verhindern können.
Auch das Reizdarmsyndrom, eine häufige gastrointestinale Störung, kann mit Probiotika erfolgreich therapiert werden. Jedoch zeigt die Datenlage hier ebenfalls, dass der resultierende Effekt (Abschwächung der beobachteten Symptome) stark vom verwendeten Präparat abhängt. Da der Reizdarm primär einen Störungszustand darstellt, erscheint dessen Behandlung mit Probiotika als eine interessante Möglichkeit, um parallel zu einer passenden Ernährung(sumstellung) Symptome wie Blähungen, Bauchschmerzen oder Obstipation positiv zu beeinflussen (Shah & Lacey 2016). Aus der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten geht hervor, dass verschiedene in probiotischen Präparaten verwendete Lactobacillen- und Bifidobakterienstämme, aber auch ein E.coli-Stamm, in Abhängigkeit der verschiedenen Formen des Reizdarms unterschiedlichen Evidenzgrad und Wirkung besitzen.
Probiotische Lebensmittel wie z.B. Joghurtdrinks besitzen bei regelmäßiger Zufuhr durchaus eine präventive, unterstützende Bedeutung, da durch das enzymatische Potenzial der Milchsäurebakterien auch die Verdauungsleistung gefördert wird. Dementsprechend wurde die Aussage, dass Milchsäurebakterien aufgrund ihres natürlichen Enzympools die Lactoseverdauung unterstützen, von der europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde genehmigt. Probiotika können weiters funktionelle Effekte wie z.B. die Beeinflussung der Stuhlkonsistenz oder der fäkalen Transitzeit bewirken. In diesem Zusammenhang werden vor allem Bifidobakterien eingesetzt, die dosisabhängig zur Verringerung von Obstipationsproblemen, z.B. bei Senioren, beitragen.
Immunologie, Gynäkologie, Energie
Studien zur immunologisch relevanten Wirkung von Probiotika konzentrieren sich einerseits auf Zusammenhänge mit dem allergischen Geschehen und andererseits auf deren Bedeutung in der Vorbeugung vor Erkrankungen durch Stärkung des Immunsystems. Generell ist nicht ausreichend geklärt, ob die Verabreichung bestimmter Probiotika an Kinder dazu führt, das Risiko zu reduzieren, allergische Erkrankungen zu entwickeln. Vorbeugende Effekte gegenüber der Ausbildung allergisch bedingter Ekzeme werden jedoch als wahrscheinlich erachtet. In einer aktuellen Veröffentlichung empfiehlt ein internationales Expertengremium bereits die Zufuhr von Probiotika bei Schwangeren, um das spätere Risiko der Ausprägung von Allergien beim Kind zu reduzieren. In Analogie dazu wird die Anwendung von Probiotika bei der Mutter, begleitend zum Stillvorgang empfohlen.
Eine durch Probiotika bewirkte Stärkung des Immunsystems nachzuweisen ist schwierig, weil solche Aussagen sowohl von Seiten des dafür erforderlichen experimentellen Designs als auch von Seiten passender klinischer Endpunkte problematisch sind. Eine auf mehreren Datenbanken basierende metaanalytische Auswertung von 21 Studien mit insgesamt über 6.000 Personen hat ergeben, dass unter den verschiedenen Produkten (Kapseln, Suspensionen, Joghurtdrinks) im Vergleich zu Placebos lediglich zwei in der Lage waren, die Inzidenzrate von Atemwegserkrankungen zu senken. Dennoch werden in einer jüngeren Arbeit die volksgesundheitliche und wirtschaftliche Bedeutung von Probiotika in der vorbeugenden Behandlung von Atemwegserkrankungen diskutiert (Lenoir-Wijnkoop et al. 2016).
Auch in der Gynäkologie nehmen Probiotika eine hinsichtlich Prävention und Therapie immer interessanter werdende Stellung ein. Es konnte gezeigt werden, dass sich bestimmte Lactobacillenstämme gegen pathogene bzw. unerwünschte Keime wie z.B. Gardnerella vaginalis, Candida albicans und E.coli wirksam durchsetzen (Domig et al. 2014). Die Zufuhr erfolgt entweder in Form einer direkten Applikation (z.B. über Suppositorien und Tampons) oder oral, wobei hierbei neben immunologischen externe Translokationseffekte über den Perianalbereich zu einem therapeutischen Effekt beitragen können.
Die Auswirkung von Probiotika auf den Energiestoffwechsel ist bisher noch sehr wenig erforscht. Die meisten hierzu vorliegenden Studien basieren auf Tierversuchen, aus denen hervorgeht, dass bestimmte Keime den Metabolismus beeinflussen können und somit eine gezielte Prävention gegen Adipositas in Aussicht stellen. Andere Studienauswertungen, die sich mit der Untersuchung des Effekts der Probiotikazufuhr auf den Serumcholesteringehalt beschäftigten, konnten eine signifikante, wenn auch geringe Senkung des Gesamtcholesterins und LDL-Cholesterins zeigen. Als Erklärung hierfür wird die von manchen probiotischen Bakterienstämmen gebildete Gallensalzhydrolase vermutet, die in der Lage ist, Gallensäuren zu dekonjugieren. Cholesterin wird sodann als Kopräzipitat über die Faeces mit ausgeschieden. Eine andere Erklärung geht von der Fähigkeit probiotischer Keime aus, Cholesterin direkt zu absorbieren. Dennoch stehen in Bezug auf eine cholesterinsenkende Wirkung Probiotika heute in starker Konkurrenz zu pflanzlichen Produkten wie grünem Tee oder Substanzen wie z.B. Resveratrol.
Probiotische Produkte und Präparate
Probiotika werden in unterschiedlicher Form und mit verschiedenen Matrices konsumiert bzw. angewendet. Im Bereich der Lebensmittel stehen fermentierte Milchprodukte im Vordergrund, die entweder mit dem probiotischen Bakterienstamm fermentiert wurden oder den speziellen probiotischen Stamm als Ergänzung zu einer üblichen Fermentationsmikrobiota (z.B. einer klassischen Joghurtfermentationskultur) enthalten. Entscheidend ist hierbei die durch den Herstellungs- bzw. Fermentationsprozess erzielte Keimdichte, die umgerechnet auf die Verzehrsportion ausreichend viele lebensfähige Keime enthalten sollte. Hinzu kommt die Notwendigkeit, dass diese Keimdichte bei der Lagerung des fermentierten Produktes im Kühlregal und später im Kühlschrank des Verbrauchers nicht stark abnehmen soll, damit nach oraler Aufnahme sowie im Zuge der Verdauung noch ausreichend viele Keime den für sie angepeilten Platz im Darm erreichen. Dies bedeutet, dass die Stabilität der Probiotika im Produkt, aber auch im Zuge der Magen-Darmpassage wichtig ist. Probiotische Drinks besitzen im Durchschnitt zwischen 107 und 108 koloniebildende Einheiten pro ml Produkt. Gemessen an einer Verzehrsportion von z.B. 100 oder 150 ml wird dem Körper somit ein rund hundertfacher Wert dieser Keimzahl zugeführt.
Kindernährmittel auf Milchpulverbasis können ebenfalls probiotische Kulturen beinhalten, an die wiederum besondere Stabilitätsanforderungen bei Zimmertemperaturlagerung gestellt werden. Hierfür werden heute meist gefriergetrocknete probiotische Bakterien eingesetzt, denen überdies durch den Vorgang der Mikroverkapselung zu einer ausreichenden Lagerstabilität verholfen wird. Bei den in Form pharmazeutischer Produkte oder Nahrungsergänzungsmitteln verabreichten Probiotika reicht das Angebot von pulverförmigen, gefriergetrockneten Keimen, meistens in Kombination mit einer passenden Trägersubstanz zur Verbesserung der Rieselfähigkeit oder des Quellungsprozesses (z.B. bei Suspendieren in temperiertem Wasser vor der Zufuhr) bis zu gefriergetrockneten Kulturen in Gelatinekapseln. Aufgrund der angestrebten Zufuhrdichte kann hier die Größe der Kapsel ein limitierender Faktor sein. Außer diesen Anwendungsformen finden sich vereinzelt Bakteriensuspensionen oder Emulsionen mit Keimen, die bis zum Zeitpunkt ihrer Verabreichung üblicherweise kühlgelagert werden sollten.
Über die Eigenschaften, Wirkungen und Besonderheiten von Präbiotika berichten wir in der Ausgabe 4/2017 des Journals für Ernährungsmedizin.
Korrespondenz:
Univ.Prof. Dr. Wolfgang Kneifel, Department für Lebensmittelwissenschaften und –technologie, Universität für Bodenkultur Wien, Muthgasse 18, 1190 Wien, Österreich; Email: wolfgang.kneifel@boku.ac.at
Prof. Dr. Seppo Salminen, Functional Food Forum, Faculty of Medicine, University of Turku, 20014 Turku, Finland; Email: sepsal@utu.fi