Calciumempfehlungen für Kinder – zu hoch angesetzt?

Oktober 2017

Neue Studien zeigen keine Evidenz für die Höhe der gän­gigen Emp­feh­lungen für die Cal­ci­um­zufuhr bei Jugend­lichen. Offenbar reicht die in Mit­tel­europa übliche – unter den Emp­feh­lungen lie­gende – Cal­ci­um­zufuhr bei Kindern und Jugend­lichen aus.

Calcium ist ein essen­ti­eller Nähr­stoff, der im Körper für zahl­reiche phy­sio­lo­gische Pro­zesse benötigt wird. Außerdem ist es ein wich­tiges Struk­tur­element für unser Skelett. Wichtige Lie­fe­ranten für Calcium sind Milch­pro­dukte. Sie haben eine hohe Nähr­stoff­dichte und sind neben Calcium auch reich an Eiweiß, Phosphor und essen­ti­ellen Mine­ral­stoffen und Vit­aminen. Von den Ernäh­rungs­ge­sell­schaften (ÖGE, DGE, SGE) werden kon­krete Emp­feh­lungen für die Cal­ci­um­zufuhr im Kindes- und Jugend­alter for­mu­liert: 750mg/​d für 4- bis 7‑Jährige, 900mg/​d für 7- bis 10-​Jährige, 1100mg/​d für 10- bis 13-​Jährige und 1200mg/​d für 13- bis 19-​Jährige. Kli­nische Studien, die diese Zahlen unter­stützen, fehlen jedoch. Aus dem öster­rei­chi­schen Ernäh­rungs­be­richt 2012 geht hervor, dass die tat­säch­liche Cal­ci­um­auf­nahme der Schul­kinder von 7 bis 14 Jahren „weit unter den Emp­feh­lungen“ liegt: durch­schnittlich 717mg/​d bei Mädchen und 797mg/​d bei Buben zwi­schen 7 bis 14 Jahren.

Aktuelle Studien

Kürzlich sind zwei Studien im Ame­rican Journal of Cli­nical Nut­rition erschienen, die der Frage nach­gehen, inwieweit die Cal­ci­um­zufuhr im Jugend­alter mit der Ent­stehung von Über­ge­wicht kor­re­liert, und ob eine hohe Cal­ci­um­zufuhr die Kno­chen­dichte günstig zu beein­flussen vermag.

Die Studie von Lappe et al. unter­suchte die Effekte von Milch­pro­dukten auf das Kör­per­ge­wicht bei jugend­lichen Mädchen. Die Stu­di­en­po­pu­lation waren 274 13- bis 14-​jährige Mädchen. Die täg­liche Cal­ci­um­auf­nahme lag zu Beginn unter 600mg/​d. Über 12 Monate lang wurde dann durch die Erhöhung der Auf­nahme von Milch und Milch­pro­dukten die Cal­ci­um­auf­nahme in der Inter­ven­ti­ons­gruppe auf 1200mg/​d (lt. den Emp­feh­lungen) erhöht. In der Inter­ven­ti­ons­gruppe lag die Cal­ci­um­auf­nahme im Durch­schnitt bei 1518mg/​d, in der Kon­troll­gruppe hin­gegen bei 752mg/​d. In den beiden Gruppen zeigten sich aller­dings keine Unter­schiede hin­sichtlich der Zunahme von Gewicht und Kör­perfett. Somit liegt keine Evidenz vor, dass eine sehr hohe Zufuhr von Milch und Milch­pro­dukten zu einem Anstieg von Kör­per­ge­wicht und Kör­perfett führt, aller­dings stellt sich die Frage, ob diese über­haupt sinnvoll ist.

Die zweite Studie von Vogel et al. ist eine Studie an normal- und über­ge­wich­tigen Kindern zwi­schen 8 und 16 Jahren. Für sie wurde zu Beginn eine Cal­ci­um­auf­nahme von unter 800mg/​d berechnet. Während 18 Monaten wurde die Auf­nahme von Milch­pro­dukten auf 3 Por­tionen pro Tag mit jeweils 300mg Calcium erhöht. In der Inter­ven­ti­ons­gruppe ergab sich dadurch eine Cal­ci­um­auf­nahme von durch­schnittlich 1500mg/​d und in der Kon­troll­gruppe von ca. 1000mg/​d. Es zeigte sich aller­dings kein Effekt auf Kno­chen­dichte und Kör­per­zu­sam­men­setzung. Und es wurde die Schluss­fol­gerung gezogen, dass bei 8- bis 16-​Jährigen 2 Por­tionen Milch bzw. Milch­pro­dukte pro Tag aus­rei­chend wären, um eine optimale Kno­chen­dichte zu erzielen. Somit stellt sich neu­erlich die Frage, ob die Emp­feh­lungen für die Cal­ci­um­zufuhr für Jugend­liche nicht zu hoch und außerdem unrea­lis­tisch sind? Die Kno­chen­dichte nimmt mit dem Alter zu und ist je nach Geschlecht, Alter und Ent­wicklung des Kindes sehr unter­schiedlich. Es ist daher vor allem im Wachs­tums­alter pro­ble­ma­tisch, eine „all­ge­meine Emp­fehlung“ für die täg­liche Cal­ci­um­zufuhr zu for­mu­lieren.

Frühere Hinweise

Bereits 2001 wurde eine Arbeit von Widhalm et al ver­öf­fent­licht, die den Benefit der emp­foh­lenen hohen Cal­ci­um­mengen in Frage gestellt hat. Vor allem eine Emp­fehlung von 1100mg/​d für Über-​10-​Jährige und 1200mg/​d für Über-​13-​Jährige erscheint besonders hoch und es stellt sich auch die Frage, ob eine derart hohe Tages­emp­fehlung über die übliche Ernährung über­haupt erreicht werden kann. Bestehende Daten aus Öster­reich haben damals gezeigt, dass 15- bis 19-​Jährige im Durch­schnitt 743mg/​d an Calcium auf­nehmen, 7- bis 9‑Jährige ca. 770mg/​d, 10- bis 12-​Jährige durch­schnittlich 747 mg/​d und 13- bis 14-​Jährige ca. 726 mg/​d. Da bei Kindern und Jugend­lichen die emp­foh­lenen Cal­ci­um­mengen größ­ten­teils nicht erreichbar sind und nur mit Sup­ple­menten erzielt werden können, stellte sich damals schon die Frage, ob die Emp­feh­lungen nicht zu hoch ange­setzt sind.

Conclusio

Für die von zahl­reichen Fach­ge­sell­schaften her­aus­ge­gebene Emp­fehlung für eine Cal­ci­um­zufuhr in der Grö­ßen­ordnung von 1,1 bis 1,2g pro Tag für 10- bis 19-​Jährige gibt es keine Evidenz. Um eine optimale Kno­chen­ge­sundheit im Kindes- und Jugend­alter zu erreichen, reicht offen­sichtlich die in Mit­tel­europa übliche Cal­ci­um­zufuhr von 700 bis 800mg pro Tag aus. Daten aus Ernäh­rungs­er­he­bungen, die zeigen, dass die Ver­sorgung bei Kindern und Jugend­lichen weit unter den Emp­feh­lungen liegt, weisen darauf hin, dass diese Emp­feh­lungen deutlich zu hoch und nicht evi­denz­ba­siert sind. Trotzdem sind keine Fälle schwer­wie­gender Man­gel­ver­sorgung bekannt. Aus diesem Grund ist es fraglich, ob die hohen Mengen an Calcium lt. Emp­feh­lungen gerecht­fertigt sind und die Gui­de­lines nicht revi­diert werden sollten.

ÖAIE 2017; Gat­ternig K, Widhalm K

Lite­ratur:

B.S. Zemel, Dietary calcium intake recom­men­da­tions for children: are they too high?, Ame­rican Journal of Cli­nical Nut­rition 2017; 105: 1025–1026

J.M. Lappe, D.J. McMahon, A. Laughlin, C. Hanson, J.C. Des­mangles, M. Begley, M. Schwartz, The effect of incre­asing dairy calcium intake of ado­le­scent girls on changes in body fat and weight, Ame­rican Journal of Cli­nical Nut­rition 2017; 105: 1046–1053

K.A. Vogel, B.R. Martin, L.D. McCabe, M. Peacock, S.J. Warden, G.P. McCabe, C.M. Weaver, The effect of dairy intake on bone mass and body com­po­sition in early pubertal girls and boys: a ran­do­mized con­trolled trial, Ame­rican Journal of Cli­nical Nut­rition 2017; 105: 1241–1229

K. Widhalm, M. Zavrel, E. Reit­hofer, Kal­zi­um­zufuhr bei Kindern und Jugend­lichen im Licht der Emp­feh­lungen (D‑A-​CH-​Referenzwerte 2000), Aktuelle Ernäh­rungs Medizin 2001; 26: 30–34

I. Elmadfa et al, Öster­rei­chi­scher Ernäh­rungs­be­richt 2012, Bun­des­mi­nis­terium für Gesundheit, 1. Auflage 2012