Altern, Polyneuropathie & Vitalstoffe

April 2017

Beim 1. Fachtag Vital­stoffe, der am 20. Jänner in Wien stattfand, standen der ältere Mensch und Pati­enten mit Poly­neu­ro­pathie im Blickpunkt.

Wenn es um Vital­stoffe geht, so kris­tal­li­siert sich die Dia­gnostik immer mehr als neur­al­gi­scher Punkt heraus. Grund­sätzlich sei es anzu­streben – so der Tenor unter den Experten – den Status betreffend Vit­amine, Spu­ren­ele­mente bzw. Mine­ral­stoffe ein­deutig abzu­klären, bevor eine Sup­ple­men­tierung erfolgt. „Nah­rungs­er­gän­zungs­mittel sind in erster Linie sinnvoll, wenn nach­weislich Nähr­stoff­de­fizite bestehen“, unter­mauerte em. Univ.-Prof. Dr. Kurt Widhalm, Prä­sident des Öster­rei­chi­schen Aka­de­mi­schen Instituts für Ernäh­rungs­me­dizin. Bestimmte Bevölkerungs- bzw. Pati­en­ten­gruppen weisen ein dies­be­züglich erhöhtes Risiko auf. Dazu gehören Schwangere, Men­schen in höherem Alter, Kinder sowie Pati­enten mit Erkran­kungen wie zum Bei­spiel M. Alzheimer.

Die Poly­neu­ro­pathie ist in jeder Hin­sicht ein weites Feld. „Mit einer Häu­figkeit von sieben bis zehn Prozent der Bevöl­kerung und an die 500 Ursachen stellt die Poly­neu­ro­pathie eine enorme Her­aus­for­derung für den behan­delnden Arzt dar“, illus­trierte Prim. Univ.-Prof. Dr. Udo Zifko, Vor­stand der Abteilung für Neu­ro­logie am Evan­ge­li­schen Kran­kenhaus in Wien die Pro­ble­matik und hob hervor, dass rund ein Drittel der Erkran­kungs­fälle idio­pa­thisch bedingt sind. Die Ursachen der Poly­neu­ro­pathie reichen von gene­ti­scher Dis­po­sition und immu­no­lo­gi­schen und ent­zünd­lichen Erkran­kungen über Stoff­wech­sel­pro­ble­ma­tiken wie Dia­betes oder Schild­drü­sen­er­kran­kungen bis zu All­ge­mein­erkran­kungen, etwa die Nieren oder die Leber betreffend. Ischämie ist ein weithin unter­schätzter Faktor punkto Poly­neu­ro­pathie, ein Zusam­menhang mit der peri­pheren arte­ri­ellen Ver­schluss­krankheit (paVK) und mit COPD vor liegt nämlich relativ häufig vor.

Nicht zu ver­nach­läs­sigen sind auch Mangel- bzw. Fehl­ernährung, etwa im Kontext mit Vit­amin­de­fi­ziten, als Ursachen einer Poly­neu­ro­pathie. Dies gilt sogar für indus­tria­li­sierte Länder, auch wenn das Ausmaß im Ver­gleich zu Ent­wick­lungs­ländern freilich wesentlich geringer ist. „Hier­zu­lande ist eine häufige Asso­ziation mit Alko­hol­miss­brauch sowie mit zahl­reichen Medi­ka­menten gegeben“, erläutert Prof. Zifko.

Eine Min­der­ver­sorgung mit B‑Vitaminen als Ursache „idio­pa­thi­scher“ Poly­neu­ro­pa­thien dürfte nicht zu unter­schätzen sein. „Der Status von Vitamin B12 und Fol­säure sollte auf jeden Fall erhoben werden“, betont Prof. Zifko, „aller­dings geschieht das viel zu selten“. Betroffene weisen auch relativ häufig einen Vitamin-​B6-​Mangel auf.

Zahl­reiche Fak­toren können zu einem Mangel von zum Bei­spiel Vitamin B1, B6 und B12 bei­tragen. An Sub­stanzen etwa der erwähnte Alkohol sowie Medi­ka­mente wie Ant­acida, Met­formin, Kon­tra­zeptiva, Metho­trexat, Sali­cylate, nicht-​steroidale Anti­rheu­matika (NSAR) und andere sein. Erkran­kungen wie atrophe Gas­tritis, Dünn­darm­er­kran­kungen wie Zöliakie oder Sprue sowie das Kurz­darm­syndrom können damit zusam­men­hängen, ebenso ein Zink­de­fizit. Eisen­mangel oder Vitamin-​C-​Mangel redu­zieren die Bio­ver­füg­barkeit der B‑Vitamine.

Natio­nalen Erhe­bungen zufolge erreicht ein teil­weise beträcht­licher Anteil der Bevöl­kerung die emp­fohlene Auf­nah­me­menge nicht. Die deutsche Nationale Ver­zehrs­studie fand bei einem Drittel der 14- bis 24-​jährigen Frauen und bei 10 bis 30% der Senioren keine aus­rei­chende Zufuhr von Vitamin B12. In Hin­blick auf Vitamin B12 ist die damit asso­zi­ierte Fol­säure zu erwähnen. Mehr als drei Viertel der Bevöl­kerung erreichen die emp­fohlene Zufuhr an Folat nicht. Mit Calcium und Jod sowie bei Frauen zusätzlich Eisen gehört Folat auch laut dem deut­schen Ernäh­rungs­be­richt 2015 zu den­je­nigen Mikro­nähr­stoffen, deren Auf­nahme im Schnitt von den D‑A-​CH-​Referenzwerten nach unten abweicht. Bei Vitamin B1 ist die Situation ähnlich wie bei Vitamin B12. Laut natio­naler Ver­zehrs­studie erreichen 21% der Männer und 32% der Frauen die emp­fohlene Zufuhr­menge von Vitamin B1 nicht. Ein mani­fester Mangel ist vor allem bei mas­siven Elek­tro­ly­ten­t­glei­sungen, mas­sivem Alko­hol­miss­brauch oder einem akuten Korsakow-​Syndrom zu sehen.

Therapieoptionen im Überblick

Die The­rapie der Poly­neu­ro­pathie ist durch eine stark indi­vi­duell geprägte Kom­bi­nation ver­schie­dener the­ra­peu­ti­scher Ansätze gekenn­zeichnet. Soferne eine Ursache iden­ti­fi­ziert werden kann, ist natürlich eine kausale The­rapie anzu­streben. „Bei der idio­pa­thi­schen Poly­neu­ro­pathie, die bis zu einem gewissen Grad auch als eine Erkrankung des Alters zu sehen ist, steht die sym­ptom­ori­en­tierte The­rapie im Vor­der­grund“, so Prof. Zifko.

Bei der dia­be­ti­schen Poly­neu­ro­pathie ist zu bedenken, dass eine zu rasche Senkung des Blut­zu­ckers bzw. eine zu radikale Insu­lin­ein­stellung ebenso wie ein zu rascher Gewichts­verlust zu einer Ver­schlech­terung der Sym­pto­matik führen können. Vor­wiegend bei der dia­be­ti­schen Neu­ro­pathie wurde der Einsatz von Alpha-​Liponsäure mehrfach unter­sucht, wobei sich wider­sprüch­liche Ergeb­nisse gezeigt haben. Grund­sätzlich sollte die Alpha-​Liponsäure-​Therapie mit einer intra­ve­nösen Gabe für min­destens ein bis zwei Wochen begonnen und dann auf eine orale Ver­ab­rei­chung gewechselt werden. Ein The­ra­pie­erfolg vor­aus­ge­setzt ist eine kon­ti­nu­ier­liche Gabe möglich. „In der kli­ni­schen Praxis muss man sich stark auf sub­jektive Para­meter ver­lassen, wie die Erfahrung zeigt, ist ein gutes Ansprechen relativ häufig“, so Prof. Zifko. Zur Lin­derung der schmerz­haften Dys­äs­thesien können Gaba­pentin und Pre­ga­balin in Erwägung gezogen werden, wobei in Hin­blick auf die Ver­träg­lichkeit ein langsame Dosis­stei­gerung zu emp­fehlen ist. Das­selbe gilt für Anti­de­pressiva wie Dulo­xetin oder Amit­ri­ptylin, die begleitend sinnvoll sein können. Liegt eine ein­deutige depressive Begleit­sym­pto­matik vor, was bei 30 bis 50% der Betrof­fenen der Fall ist, so ist primär ein Anti­de­pres­sivum vorzuziehen.

Ein breites Spektrum von nicht medi­ka­men­tösen The­ra­pie­formen ergänzt die Behand­lungs­op­tionen. Abge­sehen von phy­si­ka­li­schen Methoden und der neu­ro­lo­gi­schen Reha­bi­li­tation nehmen Phy­to­the­ra­peutika, Vit­amin­prä­parate und Nah­rungs­er­gän­zungs­mittel einen festen Platz ein – nicht zuletzt im Bereich der Selbst­me­di­kation. Gerade bei B‑Vitaminen besteht dabei auch das Risiko einer Über­do­sierung mit nega­tiven Kon­se­quenzen. „Die ärzt­liche Kon­trolle in Hin­blick auf die Ein­nahme von Nah­rungs­er­gän­zungs­mitteln ist auch auf­grund der poten­zi­ellen Inter­ak­tionen mit anderen Prä­pa­raten wichtig“, so Zifko. Nah­rungs­er­gän­zungs­mittel sollten daher auch Thema der ärzt­lichen Beratung sein, auch um Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sie medi­ka­mentöse und andere the­ra­peu­tische Optionen nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen können.

An Vital­stoffen im wei­teren Sinn kommen bei Poly­neu­ro­pathie grund­sätzlich Sub­stanzen wie Gingko-​Extrakt oder die oben erwähnte Lipon­säure in Frage. Weiters können Vit­amine der B‑Reihe sinnvoll sein. Auch wenn kein aus­ge­wie­sener Mangel gegeben ist, so haben die B‑Vitamine einen gewissen Stel­lenwert zur Ver­min­derung der Sym­ptome, so Zifko. Magnesium und Zink ergänzen das Spektrum. Eines fehlt noch: Geduld. „Es kann sehr lange dauern, bis sich eine Bes­serung ein­stellt“, gibt Zifko zu bedenken und nennt dabei einen Zeitraum von bis zu einem Jahr.