In den USA sind wesentlich mehr Lebensmittel mit Vitamin D angereichert als in Europa. Gibt es Daten, ob sich der Vitamin-D-Status dadurch verbessert hat?
Holick: Die Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D hat eine lange Geschichte. In den 1930er Jahren war sie weltweit üblich. Man hat damals sogar Produkte wie Seife oder Rasierschaum angereichert. Dann traten Anfang der 1950er Jahre in England bei einigen Kindern schwere Erkrankungen auf – Gesichtsdysmorphien, mentale Retardation, ein überhöhter Blutkalziumspiegel und Herzprobleme. Da man wusste, dass einer Überdosis von Vitamin D bei Ratten einen überhöhten Blutkalziumspiegel und Leistungsdefizite verursacht, dachte man, dass diese Erkrankungen auf ein Zuviel an Vitamin D in Milchprodukten zurückzuführen seien. Vermutlich haben diese Kinder aber unter dem seltenen Williams-Syndrom gelitten, das mit einer Hypersensitivität gegenüber Vitamin D einhergeht. Jedenfalls wurde daraufhin die Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D in Europa verboten. In den USA und Kanada wurde sie aber weitergeführt.
Wer soll Vitamin-D-Supplemente nehmen?
Holick: Meine Empfehlung lautet: jeder. Eigentlich bekommt niemand genug. Es gibt nur wenige Nahrungsquellen, sodass die alimentäre Deckung des Bedarfs praktisch unmöglich ist. Wenn dazu noch Sonnenexposition vermieden wird, gibt es praktisch keine Vitamin-D-Quelle.
Wieviel empfehlen Sie?
Holick: Erwachsene sollten 2000 Units pro Tag bekommen, Kinder 1000 Units. Ich selbst nehme 4000 Units pro Tag.
Sind größere Mengen in größeren Abständen gleich effektiv wie die tägliche Einnahme?
Holick: Wir konnten in einer Studie zeigen, dass die Einnahme von 50.000 Units alle zwei Wochen über den Zeitraum von sechs Jahren absolut effektiv und sicher war.
Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen Adipositas und Vitamin-D-Mangel.
Holick: Aufgrund seiner Fettlöslichkeit sammelt sich Vitamin D im Fettgewebe an. Adipöse Personen müssen daher wesentlich mehr Vitamin D zu sich nehmen als normalgewichtige, um einen adäquaten Blutspiegel aufrecht zu erhalten – nämlich zwei- bis dreimal so viel.
Sind sich adipöse Menschen dessen bewusst?
Holick: Nur sehr wenige verwenden Supplemente.
Woran liegt es, dass Vitamin-D-Mangel so verbreitet ist? Ist das ein „Konstruktionsfehler“ des Menschen?
Holick: Dabei geht es im Wesentlichen um die Evolution der Hautpigmentierung. Die Hautpigmentierung hat unter anderem eine wesentliche Schutzfunktion vor Hautkrebs. Als in den frühen Phasen der Menschheitsgeschichte auch Regionen abseits des Äquators besiedelt wurden, war die Hautpigmentierung bei dunkelhäutigen Menschen insoferne hinderlich, als sie nicht mehr ausreichend Vitamin D bilden konnten. Also ist die Hautpigmentierung im Lauf der Evolution zurückgegangen. Man nimmt an, dass die Neandertaler zum Beispiel einen sehr hellen Hauttyp und rötliche Haare hatten.
Könnte man also überspitzt formuliert sagen, dass Hautkrebs der Preis für eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung ist?
Holick: Hier gibt es ein grundlegendes Missverständnis. Wie so oft wird angesichts potenzieller Probleme völlige Abstinenz propagiert anstatt eines gemäßigten Umgangs. Natürlich muss man sich Gedanken machen, wie maligne Melanome verhindert werden können. Was die Sonnenexposition betrifft, so gilt es in erster Linie, Sonnenbrände zu vermeiden. Allerdings treten die meisten Melanome an den am wenigsten sonnenexponierten Hautregionen auf. Das Risiko wird vor allem durch Sonnenbrände, genetische Disposition und die Zahl von Muttermalen bestimmt.
Sie sprechen von drei Schritten, mit denen „die häufigsten Erkrankungen geheilt werden könnten.“
Holick: Vitamin-D-Mangel wird mit vielen akuten und chronischen Erkrankungen wie Hypertonie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 1 und 2, multipler Sklerose, Arthritis, Depressionen u.a.m. in Verbindung gebracht. Der erste Schritt ist eine vernünftige Sonnenexposition – dafür haben wir die App dminder.info entwickelt, mit deren Hilfe Sie an jedem Ort weltweit zu jeder Zeit erkennen können, wie viel Vitamin D gebildet werden kann. Der zweite Schritt ist eine Ernährung mit möglichst vielen Produkten, die Vitamin D natürlicherweise oder angereichert enthalten – und der dritte Schritt sind Supplemente.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
K. Gruber