Symposiumsbericht: Frühdiabetes erkennen – Diabetes verhindern

Juli 2015

Eine umfassende Diskussion des Problems „Frühdiabetes“ (Prädiabetes) durch hochkarätige Vortragende konnten die Teilnehmer des am 12. Juni in Wien vom Österreichischen Akademischen Institut für Ernährungsmedizin (ÖAIE) veranstalteten Symposiums unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Kurt Widhalm verfolgen.

Zum Auftakt standen ökonomische Aspekte im Blickpunkt. Der Gesundheitsökonom Univ.-Prof. Dr. Gottfried Haber von der Donau-Universität Krems hob die speziellen Aspekte der Prävention bei Frühdiabetes hervor. Während die Kosteneffektivität bei vielen anderen Präventionsmaßnahmen erst nach einem längeren Zeitraum zu Tage tritt, weil mitunter beträchtliche Kosten für Screening und Therapien anfallen, ist dies beim Frühdiabetes nicht der Fall. Es gäbe also aus gesundheitsökonomischer Sicht kein Argument, das gegen ein breites Screening spreche, so der Leiter des Kremser Zentrums für Management im Gesundheitswesen. Wird dieses Zeitfenster nicht genutzt, kommt es den Einzelnen und die Gesellschaft umso teurer zu stehen. Diabetiker verursachen nämlich drei Mal so hohe Kosten für Spitalsaufenthalte und Medikamente wie Nicht-Diabetiker.

Derzeit dürften in Österreich 600.000 bis 700.000 Menschen an Diabetes mellitus erkrankt sein. Die volkswirtschaftlichen Kosten für ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel werden jährlich auf 8,6 bis 12,2 Milliarden Euro geschätzt. Einbezogen sind dabei sowohl direkte als auch indirekte Kosten, wobei erstere den größten Anteil ausmachen. Freilich ist Prävention ein vergleichsweise „moderner“ Ansatz im Gesundheitswesen, bei dem sich einige Probleme stellen: Die ökonomische Bewertung von Präventionsmaßnahmen ist generell schwierig, es gibt externe Effekte der Prävention mit einem nicht abgegoltenen Nutzen oder die Problematik des öffentlichen Gutes (soziale Treffsicherheit usw.). Ungelöst sind auch Fragen der Steuerung. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass gerade im Bereich der Prävention die möglichen Synergien zwischen den Akteuren – Staat, private Initiativen, betriebliche Gesundheitsförderung, Sozialversicherung, private Versicherungen – verstärkt genützt werden müssen.

Risiken & Diagnose

Univ.-Prof. Dr. Thomas Stulnig von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der Inneren Medizin III der Meduni Wien brachte einen Überblick zu Prävalenz, Diagnostik und Risiko und erläuterte, warum die Erkennung von Frühdiabetes so wichtig ist: Frühdiabetes ist ein unabhängiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für einen vaskulären Tod. Schon bei Frühdiabetes sind Neuropathien sowie ein verstärktes Auftreten diabetischer Retinopathie und chronischer Niereninsuffizienz festzustellen. Weiters sind inflammatorische Prozesse in Gang gesetzt, es gibt eine Korrelation mit mikrovaskulären Komplikationen. Wie weit die Veränderungen des Zuckerstoffwechels zurückreichen, wenn die Diagnose „Diabetes“ gestellt wird, ist in Abbildung 1 dargestellt.

Wer soll nun auf Frühdiabetes getestet werden? Alle Personen mit Übergewicht und zumindest einem der folgenden zusätzlichen Risikofaktoren (ÖAIE; modifiziert nach Leitlinien ÖDG 2013):

  • Fettansammlung am Bauch
  • Wenig körperliche Bewegung, d.h. weniger als 2,5 Stunden pro Woche
  • Erhöhte Blutzuckerwerte
  • Abnormale Blutfettwerte
  • Bluthochdruck
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen, auch in der Familie
  • Früherer Schwangerschaftsdiabetes oder Geburt eines Kindes mit mehr als 4,5kg Gewicht
  • Verwandte mit Diabetes, auch „Alterszucker“

Prof. Stulnig betonte, dass beim Frühdiabetes mehrere Stoffwechselstörungen zu unterscheiden sind, die auch in unterschiedlichem Ausmaß vorliegen können: Erhöhter Nüchternblutzucker (Impaired Fasting Glycemia IFG), erhöhter Blutzucker zwei Stunden nach einem Belastungstest (Impaired Glucose Tolerance IGT), eine Kombination aus beidem oder ein erhöhter Blutzuckerlangzeit-Wert (HbA1c-Wert). Dabei ist zu beachten, dass die Überlappung von IFG und IGT manchmal nur 25 Prozent beträgt. Das bedeutet wiederum, dass ein einzelner Test nicht alle Personen mit Frühdiabetes erfasst. Die verschiedenen Tests haben in der Praxis ihre Vor- und Nachteile, die in Tabelle 1 zusammengefasst sind.

Man kann davon ausgehen, dass die Konversionsrate von Frühdiabetes zu Diabetes insgesamt bei bis zu 70 Prozent liegt. Die verschiedenen, einem Frühdiabetes zu Grunde liegenden, Stoffwechselstörungen unterscheiden sich, erläuterte Prof. Stulnig. Während die Konversationsrate zu Diabetes bei isolierter IGT bei 4-6 und bei isolierter IFG bei 6-9 Prozent pro Jahr liegt, steigt sie bei kombinierter IGT und IFG auf 15-19 Prozent pro Jahr. Bei einem entsprechend erhöhten HbA1c-Wert beträgt sie 7 Prozent pro Jahr (Gerstein et al., Diabetes Res Clin Pract 2007; 78: 305-312; Heianza et al., Lancet 2011; 378: 147-155).

Erfolge der Prävention

Der „Vater der Diabetesprävention“, Univ.-Prof. Dr. Jaakko Tuomilehto vom Department für Klinische Neurowissenschaften und Präventionsmedizin der Donau-Universität Krems brachte Details und aktuelle Erkenntnisse aus der Präventionsforschung. Eine nachhaltige Lebensstiländerung mit ausreichend Bewegung wird von vielen Experten als enorm schwierig gesehen. Diesen Standpunkt teilt Prof. Tuomilehto nicht. Seinen Erfahrungen aus der Finnish Diabetes Prevention Study, bei der Personen mit IGT eingeschlossen waren, und deren Follow-up zufolge können die erforderlichen Lebensstiländerungen durchaus in den Menschen verankert werden. So waren die Effekte bezüglich Gewichtsreduktion zum Beispiel nicht nur während des Interventionszeitraums festzustellen, sondern auch noch zehn Jahre danach (Lindström et al., Diabetologia 2013; 56: 284-293). Auch die Diabetes-Inzidenz war im Follow-up nach zehn Jahren in der Interventionsgruppe deutlich geringer als in der Kontrollgruppe. Schon nach zwei Jahren hatten sich das relative und auch das absolute Risiko signifikant reduziert. In dieselbe Richtung weisen die Ergebnisse einer chinesischen Studie mit einer Follow-up-Dauer von sogar 20 Jahren (Li et al., Lancet 2008; 371: 1783-1789), in die ebenfalls Personen mit IGT eingeschlossen waren. Besonders stark profitiert hatten dabei ältere Personen über 61 Jahren – es ist also nie zu spät, mit Bewegung zu beginnen.

Lebensstil & Bewegung bringen es in einer Metaanalyse klinischer Studien zur Prävention von Diabetes auf eine sensationelle Number-needed-to-Treat von 6,4. Es liegt auch eine klare Dosis-Wirkungsbeziehung vor: Je mehr von fünf Lifestyle-Faktoren positiv verändert werden, umso stärker ist die Risikoreduktion. Als praktikable und kosteneffektive Screening-Methode plädiert Prof. Tuomilehto für einen Fragebogen mit einem Schwerpunkt auf der Familiengeschichte, z.B. den FINDRISC-Score (Finnish Diabetes Risc Score).

Damit in Einklang steht auch die Bedeutung, die genetischen Faktoren von den Experten beigemessen wird. Man kennt heute mehr als 80 Gene, die mit Diabetes bzw. Frühdiabetes in Verbindung stehen, in den meisten Fällen aber nicht exakt die Rolle, die sie spielen. Kenntnisse über genetische Faktoren können u.U. die Basis für eine personalisierte Präventivmedizin in diesem Gebiet bilden. Die genetische Heterogenität der Patienten spiegelt sich auch darin, dass das Risiko verschieden ist, je nachdem, welcher der Messwerte erhöht ist. Als besonders ungünstig erscheint eine isoliert erhöhte Nüchternglukose (IFG) (Saito et al., Arch Int Med 2011; 171: 1352-1360). In diesem Fall ist mit Lifestyle-Änderungen allein keine Risikoreduktion zu erzielen. Weiters sprechen manche Betroffene auf Bewegungs- und andere auf Ernährungsinterventionen besser an.

Bewegung & Ernährung

Prim. Univ.-Prof. DDr. Josef Niebauer vom Universitätsinstitut für Präventive und Rehabilitive Sportmedizin an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) Salzburg gab einen Überblick zur Studienlage betreffend die überragende Bedeutung von Bewegung als Präventionsmaßnahme, die auch noch bei optimaler medikamentöser Therapie einen zusätzlichen Nutzen bringt. Ein klassisches Studienergebnis zeigt weiters, dass ein gesunder Lebensstil signifikant effektiver sein kann als ein Medikament: Die Inzidenz von Diabetes konnte um 58 bzw. 31 Prozent gesenkt werden (N Engl J Med 2002; 346: 393-403).

Trainingsprogramme für ältere Diabetiker gehen teilweise an der Realität vorbei, bedauerte Prof. Niebauer. Dies insoferne, als beim Krafttraining die Betonung auf dem Maximalkrafttraining liege, was den körperlichen Voraussetzungen der Typ-2-Diabetiker im Allgemeinen nicht entspreche. Ab einem Alter von 60 Jahren sei ein Kraft-Ausdauer-Training mit geringeren Gewichten wesentlich besser geeignet und zielführender.

Univ.-Prof. Dr. Hans Hauner vom Institut für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München referierte über die ernährungsmedizinischen Säulen in Prävention und Therapie des Diabetes. Eines gleich vorweg: Die optimale Ernährung in der Prävention entspricht derjenigen bei manifester Erkrankung und das heißt fettarm, zuckerarm, ballaststoffreich und energetisch knapp. Allerdings ist eine isolierte Betrachtung des Effekts einzelner Komponenten und vor allem diätetischer Interventionen nur bedingt möglich, da in allen bisherigen Präventionsprogrammen ausschließlich kombinierte Lebensstilinterventionen eingesetzt wurden. Wenn man jedoch die Ergebnisse prospektiver Kohortenstudien bezüglich des relativen Risikos im Hinblick auf verschiedene Nahrungskomponenten vergleicht, lässt sich doch ein relativ klarer Trend erkennen (siehe Abb. 2). Eine aktuellen Analyse von Daten aus der Nurse’s Health Study zeigt weiters, dass der Effekt des glykämischen Index wesentlich geringer einzuschätzen ist als die Rolle der Ballaststoffe (Maki & Phillips, J Nutr 2015; 145: 159S-163S).

Jedenfalls ist die Ernährungstherapie ein essenzieller Bestandteil jedes Diabetespräventionsprogramms. Die bisher eingesetzten ernährungsmedizinischen Konzepte sind fettreduzierte, ballaststoffreiche Kost, Mittelmeerkost (an zentraleuropäische Verhältnisse adaptierbar), kohlenhydratarme Kost, vegetarische Kost sowie spezifische Lebensmittel und Supplemente. Direkt vergleichen lassen sich diese wie erwähnt allerdings nicht.

Eine besondere Rolle spielt die Gewichtsreduktion. Eine Beobachtungsstudie (Delahanty et al., Diabetes Care 2014; 37: 2738-2745) kommt zu dem Ergebnis, dass die Gewichtsreduktion nach zwei Jahren den stärksten Effekt auf die Diabetesinzidenz hat (-10% pro kg KG). Eine wiederholte Zu- und Abnahme allerdings erhöht die Diabetesinzidenz beträchtlich (HR 1,33). Prof. Hauner ging auch auf die genetischen Voraussetzungen ein – eine ungesunde Ernährung fördert die Entstehung von Diabetes Typ 2 vor allem bei Personen mit einem erhöhten genetischen Risiko.

Insulinsekretion & Medikamentation

Mit den Phasen der Insulinsekretion beschäftigte sich Prim. Priv.-Doz. Dr. Christian-Heinz Anderwald von der Sonderkrankenanstalt Agathenhof in Micheldorf: In der Entwicklung des (Prä)Diabetes kommt es durch das verminderte Ansprechen der Beta-Zellen auf Ausschüttungsstimulatoren wie Glukose, Insulin oder GLP-1 zu einer Reduktion der ersten Phase und zu progredient inadäquater Sekretion im Verhältnis zu vorliegenden Insulinresistenz. Daher solle bei klinischen Untersuchungen die erste Phase der Insulinsekretion innerhalb der ersten 30 bis maximal 60 Minuten genau beobachtet werden, um eine Prädisposition zu Diabetes mellitus rechtzeitig zu erkennen und die Patienten in kürzeren Intervallen beobachten zu können.

Schließlich legte Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer von der Universitätsklinik für Innere Medizin III der Meduni Wien die medikamentöse Therapie des Diabetes im Überblick dar.

Red.