Zwischen Körperkult und Trostessen

Juli 2014

Die Doyenne der Motivforschung in Österreich, Dr. Helene Karmasin, hat mit einem vielbeachteten Impulsstatement am ÖAIE-Symposium „Was essen wir wirklich?“ teilgenommen und im Anschluss daran zu einigen der schwierigsten Punkte der aktuellen Ernährungsproblematik in den industrialisierten Ländern Stellung genommen.

JEM: Sie sagen, dass Lebensmittel letztlich nach ideologischen Kriterien beurteilt werden.

Karmasin: Was in Zusammenhang mit Ernährung diskutiert wird, wird eigentlich dazu benützt, darüber zu diskutieren, in welcher Gesellschaft man leben möchte. Ob das in der Praxis auch umgesetzt wird, ist eine andere Frage. In vielen Fällen würde dies nämlich bedeuten, dass man sein Leben ändern müsste.

Ernährungsbedingte Risiken werden vom allgemeinen Publikum oft ganz anders gesehen als von Experten.

Die allgemeine Risikowahrnehmung deckt sich nur teilweise mit der objektiv feststellbaren Höhe eines Risikos. Menschen haben Angst vor Dingen, die ein sehr geringes Risiko darstellen, wie etwa Spinnen oder Vergiftungen. Sie haben aber keine Angst vor wackeligen Haushaltsleitern, vor Rasen auf der Autobahn oder vor Kalorienbomben. Oft wird etwas als gefährlich eingeschätzt, wenn man jemandem die Schuld dafür geben kann, während Dinge, deren Änderung die eigenen Überzeugungen gefährden könnte, keine Angst machen.

Wie ist im Hinblick darauf die verbreitete Angst vor industriell hergestellten Lebensmitteln zu sehen, die nach den geltenden Kriterien absolut sicher sind?

Wir wissen wenig über deren Herstellung, die Listen von Inhaltsstoffe sind lang und voller unbekannter Namen. Das erzeugt Verunsicherung, die sich in Angst vor „vergiftet werden“ manifestiert. Umso besser, wenn man diese Wahrnehmungen an Personen oder Konzernen festmachen kann, denen man dann vorwerfen kann, die Menschen aus Profitgier zu „vergiften“. Diese „Geschichte“ verbindet sich oft mit einem generellen Unbehagen gegenüber dem modernen Leben, dem Leistungsdruck, der Veränderung des sozialen Gefüges („Es gibt keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr“). Man möchte zur Familie, zur regionalen Ernährung, zum gemeinsamen Essen, zu den wahren Werten zurück. Die moderne Zeit mit ihrer Effizienz und ihren Gefährdungen wird einem vorindustriellen Leben entgegengesetzt.

Was in der Werbung phantasievoll genutzt wird …

Die Werbung nützt diesen an sich ideologischen Aspekt in extenso aus, indem sie industriell hergestellte Nahrungsmittel mit Bildern von vorindustriellen Herstellungsverfahren und Lebenswelten verbindet. Da werden Joghurts in kleinen Hütten produziert, von Bäuerinnen liebevoll mit der Hand gerührt; da wird der Zauber der dörflichen Welt beschworen, umrahmt von Bildern herrlicher Landschaften; Menschen und Tiere leben friedlich und glücklich miteinander. Man darf aber nicht vergessen, dass Lebensmittel in dieser vorindustriellen Zeit extrem risikoreich waren. Jede Gesellschaftsvorstellung hat ihren Preis und produziert Verlierer – und im vorindustriellen Zeitalter haben sehr, sehr viele Menschen einen sehr hohen Preis bezahlt.

Auf der anderen Seite werden Nahrungsmittel mit hohem Fett-, Zucker- und/oder Salzgehalt nach wie vor in teilweise enormen Mengen konsumiert.

Was die eigene Lebensweise gefährdet und dazu zwingen würde, als lustvoll Empfundenes aufzugeben, wird nicht zur Kenntnis genommen. Leute, die es gewohnt sind, vor dem Fernseher zu sitzen und Riesentüten Chips zum Beispiel zu knabbern, sind an Aussagen über ungesunde Fette usw. absolut nicht interessiert. Das wollen sie nicht hören oder lesen. Würden sie es zur Kenntnis nehmen, dürften sie das, was sie so mögen, ja nicht mehr oder nur selten essen. Es ist extrem schwierig, rational für eine sichere, gesunde Ernährungsweise zu argumentieren. Das hören nur Personen, die sowieso schon auf diesem Pfad sind.

Ist nicht die Angst davor, „vergiftet“ zu werden, genauso unvernünftig wie etwa exzessives Chips-Essen?

Vollkommen rationales Verhalten gibt es nicht, es ist immer ein emotionaler Anteil vorhanden. Und was heißt eigentlich „vernünftig“ und „richtig“? Schon das ist eine ideologische Frage. In der Motivationspsychologie zeigt sich deutlich, wie außerordentlich komplex das menschliche Verhalten ist. Schon durch Sprache und Bilder findet eine unbewusste Lenkung statt. Leute, die sehr „gesund“ essen, haben auch viele Beweggründe, die nicht rein „vernünftig“ sind. Manche wollen damit ihren Protest gegen die Leistungsgesellschaft zum Ausdruck bringen, manche ernähren sich „gesund“ weil sie ihren Körper als Fetisch betrachten.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Wahre Schönheit kommt von außen“, dass dieses Körperkonzept an Bedeutung gewinnt.

Es gibt eine deutlich auszumachende Gruppe von Menschen, die von der Idee des perfekten Körpers geradezu besessen sind und sich ständig damit beschäftigen, wie sie ihren Körper möglichst schön, fit, leistungsstark, jung, beweglich machen und erhalten können. Diese Gesundheits- und Körperrepräsentation ist zu einer Art Religion geworden. Ob das als vernünftig zu bezeichnen ist, sei dahingestellt. Aber unsere Gesellschaft ist an diesen Personen jedenfalls hochinteressiert. Denn wir wollen ja Leute, die selbstverantwortlich, diszipliniert und leistungsbereit sind. Das liegt nicht zuletzt im Interesse mächtiger Industrien.

Wie sehr hängt das mit dem sozioökonomischen Status zusammen?

Ein perfekter Körper ist ein stärkeres Statussignal als jedes Auto oder jedes Kleid. Ab einem bestimmten Alter signalisiert ein „guter“ Körper Disziplin, Selbstverantwortung, ausreichend Zeit und finanzielle Mittel.

Mühsam ist es aber schon. Wie steht es mit Essen als Trost?

Das ist ebenfalls eine wichtige Entwicklung. Niemand kann dauernd diszipliniert sein und diesen Idealen hinterher jagen. Man wird erschöpft und wünscht sich Trost. Dieser wird häufig bei Nahrungsmitteln gesucht und zwar bei solchen, die dem Typ „süßer Brei“ ähneln – süß, fett, cremig, weich, leicht zu essen oder zu knuspern. Das Gegenteil also von Nahrungsmitteln, wo man aktiv und bewusst die Zähne hineinschlagen und sich „durchbeißen“ muss – durch einen Apfel zum Beispiel. Der tröstet nicht. Doch wir brauchen einen breiten Strom von Nahrungsmitteln, die uns trösten. Dazu gehört das Trinken aus Fläschchen, was unter anderem den Erfolg von Smoothies ausmacht, mit denen man auch noch ohne „Anstrengung“ vernünftig sein kann.

Es kommt also sehr auf die „Verpackung“ an, wenn man eine gesunde Ernährungsweise propagieren will.

Ich würde sagen, dass Leute, die „gesunde“ Nahrungsmittel vermarkten und eine gesunde Ernährungsweise propagieren wollen, diese Mechanismen sehr gut erforschen sollten. Es geht darum, die Nahrungsmittel so zu präsentieren und mit Zeichen zu umgeben, damit die Menschen sie lustvoll konsumieren. Die erwähnten Smoothies sind ein gutes Beispiel. Wie „gesund“ sie im Einzelfall sind, kann ich nicht beurteilen, aber das Interessante ist ja der Mechanismus.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

K. Gruber

Bio-Box Dr. Helene Karmasin

  • Studium der Psychologie und Semiotik.
  • Gründerin und Gesellschafterin von Karmasin Motivforschung, Wien.
  • Wissenschaftliche Schwerpunkte: Semiotische und kulturanthropologische Analysen von Alltags- und Produktkulturen, medienwissenschaftliche Analysen.
  • Publikationen (Auszug): Wahre Schönheit kommt von außen (2011); Cultural Theory. Anwendungsfelder in Kommunikation, Marketing und Management, 2. Aufl. 2011; Produkte als Botschaften, 4. Auflage 2007; Die geheime Botschaft unserer Speisen. Was Essen über uns aussagt, 1998.

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