Epigenetik: Generationsübergreifende Genregulation

Dezember 2014

Von den mög­lichen regu­la­to­ri­schen Mecha­nismen entlang der Zeit­achse von der Tran­skription bis zur Trans­lation stehen in jüngster Zeit so genannte epi­ge­ne­tische Mecha­nismen im Fokus der For­schung. Diese sind deshalb so spannend, da sie den fast unmit­tel­baren Ein­fluss von Ernäh­rungs­fak­toren auf die Akti­vi­täts­muster unserer Gene (und unserer Nach­kommen!) ver­deut­lichen. Der fol­gende Text ist ein Auszug, ent­nommen aus dem The­men­special „Ernährung und Genetik“, ERNÄHRUNGS UMSCHAU 61(5) 2014: M266–M275. Der Abdruck erfolgt mit freund­licher Geneh­migung des Umschau Zeit­schrif­ten­verlags, Wiesbaden. 

 

Udo Maid-​Kohnert

Bei epi­ge­ne­ti­schen Mecha­nismen geht es um den räum­lichen Zugang zur gene­ti­schen Infor­mation und Phä­nomen, dass sie Akti­vi­täts­muster vor­han­dener Gene durch äußere Fak­toren bereits während der Schwan­ger­schaft und in bestimmten kri­ti­schen Zeit­fenstern der Indi­vi­du­al­ent­wicklung „geprägt“ werden können. Durch diese Prägung kann das „meta­bo­lische Schicksal“, z.B. das Risiko für Über­ge­wicht, Herz-​Kreislauf-​Erkrankungen und Dia­betes mel­litus des Orga­nismus für einen langen Zeitraum bestimmt werden. 

Stellen Sie sich vor, Sie hätten Tau­sende von Koch­bü­chern nach Län­der­küchen sor­tiert und in unter­schied­lichen Räumen ver­wahrt. Nur wenn Sie den Schlüssel zum Raum „Italien“ bekommen, klappt es mit der medi­ter­ranen Küche. Haben Sie nur den Schlüssel für Skan­di­navien, gibt es eben ver­mehrt „Kött­bullar“. Auf DNA-​Ebene über­tragen: Die DNA, welche abge­lesen werden soll, darf nicht so dicht ver­packt sein, dass sie nicht abge­lesen werden kann. 

In den Medien bekannt wurde das For­schungs­gebiet der Epi­ge­netik durch Unter­su­chungen in den Nie­der­landen an rund 900 Nach­kommen unter­ge­wich­tiger und man­gel­er­nährter Frauen, welche nach dem Hun­ger­winter 1944 zur Welt gekommen waren. Sie litten im Erwach­se­nen­alter deutlich öfter an Herz-​Kreislauf-​Erkrankungen als ihre Alters­ge­nossen und hatten häu­figer Brust­krebs sowie Über­ge­wicht. Die Lebens­si­tuation der Mütter zur Zeit der Schwan­ger­schaft hatte also Aus­wir­kungen auf Krank­heits­ri­siken der Nach­kommen. Noch ver­blüf­fender war ein wei­terer Befund: Frauen, die bei Kriegsende mit geringem Geburts­ge­wicht zur Welt gekommen waren, hatten später selbst Kinder mit relativ geringem Geburts­ge­wicht. Die „meta­bo­lische Prägung“ wirkte demnach bis in die Enkel­ge­neration fort (Roseboom et al. 2006). Da gerade die epi­ge­ne­ti­schen Mecha­nismen in unmit­tel­barem Zusam­menhang mit der Ernäh­rungs­weise und dem Ernäh­rungs­status stehen, wird teil­weise auch von Nut­ri­epi­ge­nomik gesprochen (Barth & Döring 2010). 

 

Darwin & Lamarck

Nach den Vor­stel­lungen der klas­si­schen Genetik hat die Umwelt keinen unmittelbaren/​zeitnahen Ein­fluss auf die gespei­cherte Erb­infor­mation. Gene­tische Ver­än­de­rungen geschehen unge­richtet, es über­leben die „zufällig“ am besten ange­passten Orga­nismen (Dar­wi­nismus). Epi­ge­ne­tische Phä­nomene weisen nun darauf hin, dass Umwelt-​/​Lebensbedingungen nicht nur das Muster der gene­ti­schen Akti­vität eines Orga­nismus beein­flussen, vielmehr können diese Modi­fi­ka­tionen auch an seine Nach­kommen vererbt werden. Zumindest in gewissem Umfang gibt es also eine „Ver­erbung erwor­bener Eigen­schaften“ (Lamar­ckismus).

 

 

Überlappende Begriffe

Epi­ge­netik ist ein noch sehr junges For­schungs­gebiet. Damit hängt zusammen, dass es in diesem Bereich eine Reihe ähn­licher Begriffe mit z.T. über­lap­pender Bedeutung gibt. 

Meta­bo­lische Pro­gram­mierung (auch Meta­bo­lische Prägung): Beschreibt den Ein­fluss spe­zi­eller Stoff­wech­sel­si­tua­tionen, aber auch von psy­chi­schem Stress auf lang­fristige Akti­vi­täts­muster der Gene. Bei­spiele sind sen­sible Phasen der Schwan­ger­schaft (Gesta­ti­ons­dia­betes!) und beim frühen Neu­ge­bo­renen, die sich auf das Risiko für Über­ge­wicht und Dia­betes mel­litus im Erwach­se­nen­alter aus­wirken können. Ein Erklä­rungs­ansatz ist, dass in bestimmten kri­ti­schen Phasen der früh­kind­lichen Ent­wicklung die „Soll­werte“ für bestimmte Stoff­wech­sel­pa­ra­meter (Blut­zucker, Stress­hormon Cor­tisol u.a.) ein­ge­stellt werden, indem z.B. über DNA-​Methylierung ein spe­zi­fi­sches Gen-​Aktivitätsmuster fest­gelegt wird. Mehr dazu unter www.metabolic-programming.org.

Peri­natale Programmierung/​Prägung: Beschreibt die Tat­sache, dass es kri­tische Zeit­fenster (peri­natal = um den Geburts­termin herum) gibt, in denen prägende/​programmierende Ein­flüsse besonders wirksam sind. 

Geno­mische Prägung (genomic imprinting): Die Akti­vität eines Gens kann – ent­gegen den klas­si­schen Men­del­schen Ver­er­bungs­regeln – davon abhängig sein, ob es vom väter­lichen oder müt­ter­lichen Chro­mosom stammt. So können z.B. väter­liche oder müt­ter­liche Allele durch Methy­lierung kom­plett abge­schaltet werden. Dann spricht man von Gen-​Silencing. Erst bei der Bildung der Keim­zellen (Spermien, Eizellen) wird die Prägung zunächst gelöscht und dann, auch abhängig von aktu­ellen Umwelt­si­gnalen, wieder neu aufgebaut. 

Barker-​Hypothese: Barker und Kol­legen (Hales & Barker 1992) beob­ach­teten einen Zusam­menhang zwi­schen einem geringen Geburts­ge­wicht mit ver­mehrtem Auf­treten von Typ-​2-​Diabetes und meta­bo­li­schem Syndrom im spä­teren Erwach­se­nen­alter. Mög­li­cher­weise ent­wi­ckelt der Orga­nismus bei frühen Man­gel­si­tua­tionen kom­pen­sa­to­rische Mecha­nismen („thrifty phe­notype“), die lebenslang nach­wirken (also ein Bei­spiel für meta­bo­lische Programmierung). 

Bisher bekannte Mechanismen

Epi­ge­netik befasst sich mit Mecha­nismen zur Regu­lation der gene­ti­schen Akti­vität, die bewirken, dass Indi­viduen mit „gleichen“ Genen (auf Ebene der DNA-​Sequenz) dennoch unter­schied­liche phy­sio­lo­gische Akti­vität (z.B. Grund­umsatz, Blut­zu­cker­re­gu­lation) auf­weisen können. Diese Mecha­nismen über­lagern die bekannten Regeln der klas­si­schen Genetik (griech. epi = über). Zumindest einige epi­ge­ne­tische Mar­kie­rungen können an die Nachkommen-​Generationen wei­ter­ge­geben werden. Bisher bekannte Mecha­nismen der Epi­ge­netik sind: Histon-​Modifikation, DNA-​Methylierung und mikro-RNA. 

Histon-​Modifikation

Die aus 8 Unter­ein­heiten (Oktamer) bestehenden His­ton­pro­teine gleichen Garn­spulen, um die die DNA in etwa zwei Win­dungen gewi­ckelt ist. Dies bewirkt u.a. eine starke Ver­kürzung des langen DNA-​Fadens. Tau­sende von Histon-​Oktameren bewirken eine perl­schnur­artige Struktur der DNA. Diese Perl­schnüre können nun weiter ver­drillt und die ein­zelnen Histon-​Perlen (so genannte Nukle­osomen) durch einen wei­teren His­tontyp eng anein­an­der­ge­klammert werden. Bis hierher ist der Prozess für die Zelle kurz­fristig rever­sibel: Jeweils benö­tigte Bereiche werden auf­ge­lo­ckert, die Infor­mation abge­lesen und anschließend wieder ver­packt. Das eng ver­drillte Chro­matin kann jedoch durch weitere Pro­teine in seiner Struktur fixiert werden. Damit haben die Pro­teine zur Tran­skription keinen Zugang mehr, darin ent­haltene Gen­be­reiche sind abgeschaltet. 

Dieses An- und Abschalten wird durch Anfügen von Acetyl‑, Methyl- und Phos­phat­gruppen an Ami­no­säu­re­reste der His­ton­pro­teine gesteuert.

  •  Viele Ace­tyl­ie­rungen unter­binden die weitere DNA-​Verdichtung, die Gene bleiben aktiv.
  • Viele Methy­lie­rungen sind das Signal für „Ver­packen und Abschalten“. Die Methy­lierung wirkt teil­weise indirekt, indem sie die Deace­tyl­ierung der Histone fördert.

Aus dem Acetylierungs- und Methy­lie­rungsgrad von Chro­matin (= DNA + His­ton­protein) lassen sich daher Rück­schlüsse auf die Akti­vität des Chro­mo­so­men­ab­schnitts ziehen. 

DNA-​Methylierung

Damit ein Gen aktiv (expri­miert) werden kann, müssen ver­schiedene Pro­teine an die DNA binden können. Sowohl regu­la­to­rische Pro­teine als auch die RNA-​Polymerase, das zen­trale Enzym der Tran­skription, müssen freien Zugang zur DNA-​Doppelhelix haben. Durch Anfügen von Methyl­gruppen an Cyto­sin­basen der DNA ändert sich deren Ladungs­muster und Pro­teine können ent­weder gar nicht oder zumindest schlechter, teil­weise aber auch besser binden. Im Extremfall können durch diesen Mecha­nismus Gene kom­plett abge­schaltet werden (Gen-​Silencing). Da die Methy­lie­rungs­muster selbst einen Infor­ma­ti­ons­gehalt haben, stellt sich die Frage, wie diese während der Zell­teilung an die Nach­kom­men­zellen wei­ter­ge­geben werden. Dies geschieht über spe­zielle Enzyme, die so genannten Erhaltungs-​Methylasen (DNA-​Methyltransferasen Typ 1, DNMT1). Da im Zuge der „semikon­ser­va­tiven Repli­kation“ ein Strang der DNA sein Methy­lie­rungs­muster behält, können die Erhaltungs-​Methylasen dieses Muster als Vorlage nutzen und das kom­plette Methy­lie­rungs­muster wieder herstellen. 

micro-​RNA

Der Begriff micro-​RNA (miRNA) beruht auf der sehr geringen Länge der miRNAs, die in der Regel zwi­schen 21 und 23 Nukleo­tiden beträgt. miRNAs werden über einen äußerst kom­plexen Prozess aus deutlich grö­ßeren RNA-​Vorstufen (bis zu mehrere Tausend Nukleotide) gebildet. Sie kodieren nicht für Peptide, sondern lagern sich kom­ple­mentär an das Ende pro­te­in­co­die­render mRNAs an. Hier­durch ver­ändert sich deren räum­liche Struktur, was dazu führt, dass diese mRNAs schlechter oder besser in Protein über­setzt oder gar noch vor der Trans­lation abgebaut werden. 

Die jewei­ligen Kon­zen­tra­tionen unter­schied­licher miRNAs einer Zelle sind sehr spe­zi­fisch für Ent­wick­lungs­phasen der Zelle bzw. des Gewebes/​Organs. Mög­li­cher­weise lässt sich über den miRNA-​Gehalt in Spermien- und Eizellen teil­weise erklären, wie epi­ge­ne­tische Infor­mation an die nächste Gene­ration wei­ter­ge­geben werden kann: Da die miRNA beein­flusst, welche Pro­teine als erstes und mit welcher Rate trans­la­tiert werden, könnten sie, neben den oben beschrie­benen Erhaltungs-​Methylasen, ein Mecha­nismus der peri­na­talen Pro­gram­mierung sein (Haifeng et al. 2013). 

Methylgruppen-​Donatoren

Folat, Vitamin B12 und v.a. das Stoff­wech­sel­in­ter­mediat S‑Adenosyl-​Methionin (SAM) sind wichtige Methylgruppen-​Donatoren im Stoff­wechsel. Hierauf basieren Über­le­gungen zu methyl­grup­pen­reichen Kost­formen, die das Methy­lie­rungs­muster der DNA und damit die Gen­ak­ti­vität beein­flussen. Im Tier­ex­pe­riment konnte das Auf­treten von Adi­po­sitas und Dia­betes mel­litus bei einem hierfür ver­an­lagten Mäu­se­stamm allein durch ein Vitamin B12- und fol­säu­r­reiches Futter unter­drückt werden. Der Clou: Die Diät wurde träch­tigen Mäusen ver­ab­reicht, die Aus­wirkung betraf deren Nach­kommen (Waterland & Jirtle 2003). 

Die Ein­fachheit dieses „Gen­schalters“ wirft aber sogleich eine Frage auf: Wie kann allein die Ver­füg­barkeit von Methyl-​Donatoren die enorme Zahl unserer Gene und die kom­plexen zeit­lichen Abläufe der Embryonal- und Fetal­ent­wicklung korrekt steuern? Sicher ist, dass hierbei das zeit­liche Akti­vi­täts­muster der Gene, z.B. im Zuge der fetalen Organ­ent­wicklung eine Rolle spielt. So gibt es während der Schwan­ger­schaft und in der früh­kind­lichen Ent­wicklung kri­tische Zeit­fenster („Die Chance der ersten Tausend Tage“), in denen z.B. die Ver­füg­barkeit von Glukose, aber auch von B‑Vitaminen einen lang­fristig wir­kenden Ein­fluss auf das Akti­vi­täts­muster der Gene hat. Das Phä­nomen wird als peri­natale (meta­bo­lische) Pro­gram­mierung bezeichnet. 

Der Bedeutung einer aus­rei­chenden Folat-​Konzentration im Blut der Mutter auf die gesunde Ent­wicklung des Feten tragen die aktu­ellen D‑A-​CH-​Referenzwerte zu Folat Rechnung. Es gibt neu­er­dings auch Hin­weise darauf, dass eine aus­rei­chende Folat­ver­sorgung väter­li­cher­seits eben­falls relevant ist. Mög­li­cher­weise werden, abhängig vom Folat­gehalt der Ernährung, epi­ge­ne­tische Mar­kie­rungen auf der DNA der Spermien angelegt (Lambrot et al. 2013). 

 

Dr. Udo Maid-​Kohnert, 35415 Pohlheim, Deutschland; E‑Mail mpm.maid@t‑online.de

 

Lite­ratur (Auszug):

Barth C, Döring F (2010) Nut­ri­epi­ge­nomik. Interview. Ernäh­rungs Umschau 57(6): 325–326

Haifeng D, Jianping L, Lin D et al. (2013) MicroRNA: function, detection, and bio­ana­lysis. Chem Rev 113(8): 6207–6233

Hales CN, Barker DJ (1992) Type 2 (non-​insulindependent) dia­betes mel­litus: the thrifty phe­notype hypo­thesis. Dia­be­to­logia 35: 595–601

Lambrot R, Xu C, Saint-​Phar S et al. (2013) Low paternal dietary folate alters the mouse sperm epi­genome and is asso­ciated with negative pregnancy out­comes. Nat Commun 4:2889. DOI: 10.1038/ncomms3889

Roseboom T, de Rooij S, Painter R (2006) The Dutch famine and its long-​term con­se­quences for adult health. Early Hum Dev 82: 485–491

Waterland RA, Jirtle RL (2003) Trans­posable ele­ments: targets for early nut­ri­tional effects on epi­ge­netic gene regu­lation. Mol Cell Biol 23(15): 5293–5300

 

 

 

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