Hat sich Adipositas oder gar morbide Adipositas einmal entwickelt, ist eine Rückkehr in ein „normales“ Leben fast unmöglich. Primärprävention hingegen könnte funktionieren. Die Frage ist nur, wie. Sicher ist, dass ziemlich viel anders gemacht werden muss als bisher, dass die psychische Disposition der Gefährdeten, gesellschaftliche Entwicklungen und das Lebensumfeld der Menschen wesentlich stärker berücksichtigt werden müssen. Diese Fragen wurden im Rahmen des 4. EUFEP-Kongresses diskutiert, der vom 12. bis 13. Juni in Krems stattfand und unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, Dpt. für Evidenzbasierte Medizin und Klin. Epidemiologie der Donau-Universität, stand.
Dass eine Gewichtsabnahme bei bestehender Adipositas nur sehr schwer gelingt, wurde schon durch Metaanalysen belegt, erinnerte Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Ardelt Gattinger von der Universität Salzburg. Was das in der Praxis für Betroffene und Betreuer aber bedeutet, wird erst aus Schilderungen wie den offenen, persönlichen und mutigen Diskussionsbeiträgen bei der Tagung klar. Prof. Ardelt-Gattinger berichtet über ein zwei Jahre laufendes Projekt, in dem morbid adipöse Jugendliche und ihre Familien mit dem Ziel der Lebensstilmodifikation und Gewichtsabnahme betreut wurden. „Die Menschen haben sehr viel auf sich genommen, haben viele Opfer gebracht, auch finanzielle“, erzählt die Psychologin. Aus Expertensicht konnten durchaus Erfolge verzeichnet werden, z.B. die Umwandlung von morbider Adipositas in „normale“ Adipositas. Nur: Für die Betroffenen und ihre Familien war dieser Unterschied nicht sichtbar, der Ausweg aus der Adipositas-Falle in weite Ferne gerückt, das Programm eine „Täuschung“ und die Frustration enorm. Die Reaktionen reichten bis zu tätlichen Angriffen auf Betreuer. Ein derartiges Programm wird es wohl nicht wieder geben. Da geht die Bemerkung eines Mitdiskutanten ins Leere, der monierte, man hätte eben keine solchen Erwartungen wecken dürfen. Geweckt werden hätten die Erwartungen wohl kaum müssen.
Die Ernährungswissenschafterin Dr. Karin Loibner, die das Programm „Durch Dick und Dünn“ in Niederösterreich leitet, berichtete über den Versuch, die dreiwöchigen Sommercamps in ein ganzjähriges Betreuungsprogramm umzuformen. „Die Sommercamps waren ein Erfolg, die Kinder und Jugendlichen sind mit neuem Selbstvertrauen zurückgekommen. Also haben wir voller Hoffnung ein ständiges Programm für zwei Jahre gestartet, um die Betroffenen auch im Alltag zu begleiten.“ Das Resultat: Null.
Ursachen in der Seele
Aus Studien mit 11.000 adipösen Erwachsenen und Kindern haben Prof. Ardelt-Gattinger und Kollegen Erkenntnisse über die Steuerungsmechanismen gewonnen, die an einem ungünstigen Ess- und Bewegungsverhaltens beteiligt sind. So ist bei Adipositas der Suchtaspekt relativ stark ausgeprägt. Erwachsene und Kinder leiden zu rund 30% unter Ess-Störungen: 25 bis 30% unter Binge-Eating, 6 bis 9% unter Bulimie. Außerdem zeige die neurokognitive Forschung, dass adipöse Menschen nicht zu wenig, sondern zu viel gedankliche „Ess-Kontrolle“ aufwiesen, was zu ironischen Prozessen im Gehirn führe und sich als kontraproduktiv für die Kontrolle des Körpergewichts erweise. Essen ist kein Genuss mehr, Empfehlungen können nur sehr schwer umgesetzt werden, der Umgang mit Nahrung ist unflexibel, die Einstellung zu Bewegung negativ.
Die starke Suchtkomponente bedeutet, dass Menschen, die Adipositas haben und naturgemäß vom Essen nicht „trocken“ sein können – in einer Wohlstandsgesellschaft wie unserer schon gar nicht – viel mehr Verständnis brauchen, als es bisher der Fall ist. Vor diesem Hintergrund sind auch Bemühungen zu sehen, die unter den Begriff „Health at any size“ fallen, also die Förderung und Erhaltung eines möglichst gesunden Lebensstils trotz Adipositas.
Mager sind nur die Erfolge
Viel besser als bei der Behandlung sieht es bei der Adipositasprävention auch nicht aus. Univ.-Prof. Dr. Manfred J. Müller vom Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel fasst die Ergebnisse einer Metaanalyse zusammen, bei der 37 Studien und Datensätze von 27.946 Kindern erfasst wurden: Im Schnitt führen die Maßnahmen zu einer Verringerung des BMIs von 0,09 bis 0,26kg/m2. Dazu Prof. Müller sinngemäß: Die bescheidenen Erfolge wissenschaftlich begleiteter Präventionsmaßnahmen zeigen, dass die bisherigen Versuche in dieser Richtung der Komplexität menschlichen Verhaltens ebenso wenig gerecht werden, wie den biologischen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Organismus. Da gibt es ja auch noch offene Fragen zu so grundlegenden Aspekten wie der Regelung des Appetits, hob Prof. John Blundell von der Faculty of Medicine and Health der Universität Leeds (GB) hervor. Offenbar funktioniere das System asymmetrisch, wehre sich vor allem gegen Unterernährung, lasse aber übermäßigen Konsum zu. Aufgrund der Komplexität der Appetitsteuerung sei es oft sehr schwierig, festzustellen, warum manche Menschen zu viel im Verhältnis zu ihrem Energieverbrauch konsumieren und andere nicht.
Suche nach den Schuldigen
Dabei sind die Standpunkte innerhalb der Scientific Community recht unterschiedlich. Wenn Univ.-Prof. Dr. Anita Rieder vom Institut für Sozialmedizin der Universität Wien sagt, „Wir müssen ganz sicher noch tiefer in die Gesellschaft hineinschauen“, dann ist damit ein Aspekt angesprochen, der noch eine relativ breite Zustimmung findet. Es seien sicher noch nicht alle „Schuldigen“ identifiziert – und mit einfachen und pauschalen Schuldzuweisungen und daraus resultierenden Brachialmaßnahmen sei es nicht getan.
So wird der „schwarze Peter“ gerne dem in den reichen und reich werdenden Ländern bestehenden (zu) hohen Angebot Lebensmitteln und damit der Lebensmittelindustrie zugeschoben. Warum aber sind eigentlich die meisten mit „Junk Food“ ernährten Kinder – als Richtschnur wurden 80% genannt – normalgewichtig? Ein anderes scheinbares Paradoxon: In Japan geht der BMI bei Frauen zurück, was aber nicht mit einem limitierten Nahrungsangebot, sondern mit ästhetischen Kriterien zusammenhängen dürfte.
Regulation & Restriktion…
Als Verfechter weitgehender restriktiver Maßnahmen erwies sich Dr. Tim Lobstein, Policy Director der Obesity Task Force IOTF (http://www.iaso.org/iotf), die u. a. mit der Weltgesundheitsorganisation WHO daran arbeitet, Bewusstsein für die Dringlichkeit des Problems „Adipositas“ zu schaffen. Für Prof. Lobstein sind die Hauptschuldigen die Hersteller „gesundheitsschädlicher“ Produkte und Werbeunternehmen, die als „Hauptvektoren“ bei der Verbreitung der „nicht übertragbaren“ Erkrankungen – wie die früheren „Zivilisationskrankheiten“ heute vorzugsweise genannt werden – fungieren. Der Lebensmittelindustrie stünden Milliarden für Marketingaktivitäten und für Lobbying zur Verfügung, was unter anderem die Einführung der Lebensmittelampel in der EU verhindert habe. Im Vergleich dazu seien öffentliche Mittel zur Gesundheitsförderung mehr als bescheiden, man führe also einen Kampf „David gegen Goliath“.
Ganz ähnlich Boyd Swinburn, Professor für Volksernährung und Weltgesundheit an der Deakin Universität in Melbourne (AUS): „Es gibt eine Reihe kostengünstiger, sehr effektiver Präventionsmaßnahmen gegen Adipositas, die von Regierungen aber kaum oder nur zögerlich umgesetzt werden.“ Am besten geeignet wären steuerliche Eingriffe und Gesetzgebung, z.B. ein Steuerzuschlag von 20% auf „Junk Food“ und Mehrwertsteuerbefreiung bis zu Subventionen für „gesunde“ Lebensmittel. Weiters sollte das Marketing für „ungesunde“ Lebensmittel eingeschränkt werden. Swinburn hält strategische Ansätze wie diese nicht nur für effektiver, sondern auch für wesentlich kostengünstiger als programmbasierte Ansätze und beruft sich dabei auf ein ACE(Assessing Costeffectivness)-Projekt in Australien (http://www.sph.uq.edu.au/bodce-ace-prevention). Insbesondere bei Bewegungsprogrammen sei das Kosten-Nutzen-Verhältnis miserabel, ein Millionen Dollar teures Bewegungsprogramm für Schüler in Australien sei völlig ineffizient gewesen.
…oder Freiheit & Selbstverantwortung
Regulation und Restriktion des Konsumverhaltens können als empfindliche Eingriffe in die Freiheit des Individuums gesehen werden. Werden die Menschen damit nicht (weiter) entmündigt? Lässt man damit nicht in einem weiteren zutiefst privaten Lebensbereich Kontrollen zu? Prof. Blundell: Wenn man ernsthaft und umfassend etwas gegen die Adipositasepidemie tun möchte, müsste man soziale Restriktionen in einem Maß einführen, wie es an sich nur in Kriegszeiten gemacht wird. In kleinerem Maßstab, also in den Lebensbereichen, in denen sich der Alltag der Menschen abspielt, stünden die Chancen besser.
Trotz allem hält der Bioethiker und Medizinrechtsexperte Dr. Garrath Williams von der Universität Lancaster (GB) Optimismus in der Adipositasprävention für begründet, da es mittlerweile doch gelungen sei, ein adäquates Problembewusstsein zu schaffen. „Grund für Optimismus besteht auch deshalb, weil viele möglicherweise nötige gesellschaftliche Veränderungen gut zu bereits bestehenden oder sich entwickelnden Prioritäten passen“, so Swinburn und nennt als Beispiel den Aspekt „Nachhaltigkeit“ in Zusammenhang mit Ernährung.
(K)eine Welt für Kinder
„Fernseher raus aus dem Kinderzimmer, mehr Spielen im Freien und genug Schlaf“, lautet ein Ultrakurzresümee von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Ahrens, Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin an der Universität Bremen, zu aktuellen Ergebnissen der europäischen IDEFICS-Studie. Damit sind nun also die Eltern angesprochen, freilich aber auch die Politik und Städteplanung, denn wie sollen im Freien spielen, wenn es dort gar keinen Platz zum Spielen gibt?
Als weiteren wichtigen Punkt nennt Prof. Ahrens den Schlaf. Es habe sich gezeigt, dass normalgewichtige Kinder, die von ausreichend auf zu wenig Schlaf wechselten, die stärkste Gewichtszunahme zu verzeichnen hatten. Es gebe zwar keine detaillierten Daten dazu, aber die Zahlen seien deutlich: In südeuropäischen Ländern wie Italien und Zypern gebe es die meisten stark übergewichtigen und adipösen Kinder – und das seien auch jene Länder, in denen Kinder am wenigsten schlafen.
K. Gruber