JEM Wie geht es Ihnen in Ihrer neuen Funktion? Spürt man schon etwas vom „frischen Wind“, den Sie angekündigt haben?
Dr. Raunig Wir haben eine wirklich gute Koalition mit einem tollen Team von interessierten und netten Leuten. Von der Atmosphäre her hat sich schon einiges geändert, würde ich sagen. Wir haben ein offenes Gesprächs- und Arbeitsklima und schließen niemanden aus, wenn es um die Besetzung von Referaten geht.
JEM Sie haben die Ernährung als einen Ihrer Arbeitsschwerpunkte genannt. Was kann ein Allgemeinmediziner hier tun?
Dr. Raunig Das kommt sehr auf die Struktur der Ordination an. Ein Kassenarzt so wie ich muss ja praktisch im Rekordtempo arbeiten und sehr viele Patienten an einem Tag betreuen. Aber natürlich spreche ich Patienten auf ihre Ernährungsgewohnheiten an, wenn ein Problem vorliegt, das damit zu tun haben könnte – eine Hauterkrankung etwa – oder wenn starkes Übergewicht besteht. Eine ausführliche Ernährungsberatung kann ich in meiner Ordination nicht machen, schließlich gibt es die Position bei der Krankenkasse nicht, aber ich weise sehr wohl auf die Bedeutung einer gesunden Ernährung hin.
JEM Praktische Ratschläge kommen dabei auch vor?
Dr. Raunig Die wichtigsten Dinge kann man trotz der Zeitknappheit sehr wohl ansprechen. Den Zucker- oder Fettkonsum etwa oder einfach die Empfehlung, wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen. Da sich die Ernährungsgewohnheiten ja schon sehr früh festigen, müssten die Kinderärzte viel stärker eingebunden werden, wenn es um die Vermeidung von ernährungsassoziierten Erkrankungen geht. Aber auch das würde nicht reichen, es sind zahlreiche weitere Maßnahmen in anderen Bereichen notwendig – da ist vor allem die Politik gefragt und gefordert.
JEM Wo sollten diese Maßnahmen gesetzt werden?
Dr. Raunig Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Schulverpflegung ein und auch die Verpflegung in Kindergärten. Es fällt jedenfalls auf, dass viele junge Leute gar nicht wissen, was sie kochen sollen, und sie können es auch gar nicht. Wenn sie es von den Eltern nicht lernen, so muss eben die Schule einspringen. Dabei geht es nicht nur um Kochunterricht, sondern auch um die Schulverpflegung. Die Kinder sollten ein gutes, gesundes und warmes Essen bekommen, damit sie das auch schätzen lernen. Natürlich ist das ein finanzieller und personeller Aufwand, aber ein Aufwand, der sich für die Gesundheit mehr als lohnt. Die Bedeutung der Ernährung für die Entstehung der meisten Zivilisationskrankheiten wird immer klarer.
JEM Sie haben auch „Mehr Bewegung“ als Anliegen genannt.
Dr. Raunig Eine der Folgen der Bewegungsarmut in unserer Gesellschaft sehe ich bei Jugendlichen häufig dann, wenn sie zur Führerscheinuntersuchung kommen. Viele sind erschreckend unbeweglich und ungelenkig. Im Rahmen der Ordination lege ich den Leuten gern ans Herz, sich einen Sportverein zu suchen. Bewegung muss ja auch Freude machen, deshalb sind Spielsportarten meiner Ansicht nach besonders empfehlenswert. Freilich wird es umso schwieriger, diese Freude zu entdecken, je später man mit Bewegung und Sport beginnt. Bewegung muss im Alltag gefördert werden, wobei wieder die Politik aufgerufen ist, und sie muss in der Schule verpflichtend für alle sein, genauso wie eine gesunde Verpflegung.
Wir prägen unsere Kinder überhaupt viel zu sehr auf ein Leben mit dem Computer, das verstärkt die Bewegungsarmut noch. Der Computer spielt im Leben der Menschen mittlerweile eine riesengroße Rolle. Bei Visiten zum sehe ich nicht selten Leute, die wirklich wenig haben, die ohne Bettzeug leben, aber am Tisch steht ein neuer Computer. Vielleicht sollten auch Politiker Hausbesuche machen …
JEM Zeitmangel, Bewegungsmangel, Reizüberflutung – setzen wir die falschen Prioritäten im Hinblick auf unsere Gesundheit?
Dr. Raunig Wir müssen mit den Entwicklungen umgehen lernen. Dazu gehört aber sicher nicht, das ausgleichende Element Bewegung zu beschneiden und zu erschweren. Und auch nicht, es Jugendlichen so leicht zu machen, sich ganze Nächte um die Ohren zu schlagen, indem man unbeschränkte Ausgehzeiten zulässt. Auch das ist der körperlichen und seelischen Gesundheit dieser Generation nicht unbedingt förderlich.
JEM Neuerdings füllen sich die Lokale erst gegen oder nach Mitternacht.
Dr. Raunig Das kann nicht funktionieren. Man kann ja hin und wieder fortgehen und lange aufbleiben. Aber wie soll man am nächsten Tag in der Schule mitkommen oder in der Arbeit leistungsfähig sein, wenn man immer wieder bis in den Morgen unterwegs ist? Vom Alkoholkonsum ganz zu schweigen. In Kanada zum Beispiel ist Alkohol wesentlich teurer, der Konsum in der Öffentlichkeit überhaupt verboten, Jugendliche trinken also meistens etwas anderes. Es wird schon stimmen, dass sie dann Alkohol heimlich konsumieren – aber hier trinken sie zu Hause und in der Öffentlichkeit. Für Rauchen gilt dasselbe. Ich verstehe nicht, dass es in Österreich nicht möglich ist, ein Rauchverbot wenigstens in Lokalen durchzusetzen.
JEM Im Vergleich zu anderen Ländern ist man in Österreich viel weniger konsequent, was das betrifft.
Dr. Raunig Es ist auch ein eigenartiges Phänomen, dass bei der Arbeit häufig Rauchpausen viel eher toleriert werden als Pausen einfach nur so. Wenn man raucht, kann man eine Pause machen, raucht man nicht, dann wird man schief angeschaut.
JEM Gesundheit als Lernziel auf vielen Ebenen also.
Dr. Raunig Gesundheitsverhalten ist erlernbar, was aber natürlich politischen Willen, mediale Unterstützung und finanzielle Ressourcen erfordert. Ein kleines, aber gutes Beispiel: Als vor einigen Jahren die Vogelgrippe auch in Spanien aufgetreten ist, wurde eine Kampagne gestartet, um die Leute dazu zu bewegen, in den Ellenbogen und nicht in die Hand zu niesen, um die Verbreitung der Viren möglichst zu vermeiden. Und das hat funktioniert. Letztlich geht es bei gesundem Verhalten immer auch sehr viel um das Image. Bei den Jugendlichen ist es nicht „In“ zu frühstücken, gesundes Essen ist nach wie vor schwierig durchzusetzen, wiewohl sich die Situation teilweise etwas bessert. Was immer ich in meiner Funktion dazu beitragen kann, werde ich jedenfalls tun.
JEM Um noch einmal auf die Allgemeinmediziner zurückzukommen. Wäre es denkbar, dass mit einem höheren Frauenanteil auch das Thema Ernährung mehr in den Vordergrund rückt? Schließlich ist es nach wie vor überwiegend ein Frauenthema.
Dr. Raunig Das wäre durchaus möglich. Ich habe auch gar nichts dagegen, dass Frauen manche Aufgaben eher durchführen als Männer. Es muss nur geschätzt werden.
JEM Herzlichen Dank für das Gespräch!
Autor: K. Gruber