PRO & CONTRA: Orthomolekulare Medizin

Januar 2013

Die Einnahme von Vitaminen, Mineralstoffen und anderen Substanzen im Rahmen der „Orthomolekularen Medizin“ zur Prävention und Therapie von Krankheiten wird zu den alternativmedizinischen Methoden gezählt, sorgt aber immer wieder für teilweise heftig geführte Kontroversen. Dabei geht es vor allem um wissenschaftliche Evidenzen, Risiken einer Überdosierung bei unkontrollierter Einnahme, die unter Umständen hohen Kosten – und um Missverständnisse.

„Mit orthomolekularen Substanzen werden biochemische Reize gesetzt, die vom Organismus sinnvoll verwertet und beantwortet werden können, da er es mit ‚Originalteilen‘ zu tun hat, das heißt mit Wirkstoffen, die ihm vertraut sind und die er im Rahmen der Evolution seit Milliarden Jahren ‚ausgetestet‘ hat. Dadurch sind frühzeitige Interventionen im Energiestoffwechsel, eine Optimierung der Reparaturmechanismen, die Beseitigung von freien Radikalen u.v.a. möglich,“ schreibt der Obmann der Österreichischen Gesellschaft für Orthomolekulare Medizin, Dr. Rainer Schroth (Einführung in die orthomolekulare Medizin, in „Ganzheitlich behandeln“, Verlagshaus der Ärzte, 2003, S.307). Bei den „orthomolekularen Substanzen“ handelt es sich zumeist um hochdosierte Vitamine und Mineralstoffe, die als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen sind, es kommen aber auch andere Substanzen zum Einsatz.

Ein Pro & Contra zur orthomolekularen Medizin könnte sehr kurz ausfallen, wenn man einen streng schulmedizinisch-naturwissenschaftlichen Standpunkt bezieht, denn dann würde das Resümee lauten: „Das ist eine Hypothese, die man glauben kann oder auch nicht.“ Da die orthomolekulare Medizin aber viele Facetten aufweist, werden in der Folge einige Aspekte, Argumente und Sichtweisen dargestellt.

PRO

Mag. Norbert Fuchs ist Pharmazeut und beschäftigt sich seit Jahren auch als Hersteller von Präparaten mit der orthomolekularen Medizin, der er sich mit Überzeugung und Engagement widmet. Das Journal für Ernährungsmedizin hat ihn um seine Sicht der Dinge gebeten.

JEM Die Orthomolekulare Medizin arbeitet mit diätetischen Lebensmitteln. Ist das für Sie ein Widerspruch? Oder denken Sie dabei an den Hippokrates-Satz „Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel und eure Heilmittel eure Nahrungsmittel sein“?

Mag. Fuchs Die Orthomolekulare Medizin setzt Nährstoffe zur Prävention und Therapie ernährungsbedingter Erkrankungen ein. Ob durch Kapseln, Liquida, Infusionen oder andere Darreichungsformen, ist eine Frage der pharmazeutischen Sinnhaftigkeit und der medizinischen Notwendigkeit. Ob als Nahrungsergänzungsmittel, Diätetikum oder als Arzneimittel, bestimmen die jeweils aktuellen legistischen Rahmenbedingungen, die sich periodisch ändern. Über all dem aber steht nach wie vor die hippokratische Erkenntnis, dass unsere tägliche Ernährung unseren Gesundheitszustand nachhaltig beeinflusst.

JEM Wo sehen Sie sich im Spannungsfeld zwischen der westlichen Schulmedizin und der Nicht-Schulmedizin (um den Begriff „Alternativmedizin“ zu vermeiden)?

Mag. Fuchs Die Spannung spielt sich vorwiegend in unseren Köpfen ab. Die orale oder parenterale Substitution mit Magnesium, die Infusion von Bicarbonaten oder die Zufuhr von Eisen-haltigen Präparaten sind Alltagsroutine in der medizinischen Praxis. Niemand würde diese Maßnahmen in Frage stellen, sind sie doch unverzichtbarer Bestandteil des täglichen medizinischen Repertoires. Erst mit dem Moment, in dem wir diesen Maßnahmen auch einen Namen geben, zum Beispiel als „orthomolekulare Medizin“ bezeichnen, entsteht in manchen Köpfen eine Art Glaubenskrieg.

JEM Wie werden Defizite bei Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen im Rahmen der orthomolekularen Medizin festgestellt?

Mag. Fuchs Die Suche nach Mikronährstoff-Defiziten sollte nicht primärer Fokus der Orthomolekularen Medizin sein, sondern Teil einer umfassenden Anamnese und begleitenden Laboranalytik. In der medizinischen Praxis allerdings kommt es auf die diagnostische Weichenstellung an, die bereits bei der Anamnese beginnt: Frage ich die PatientInnen gezielt nach ihren Ernährungsgewohnheiten oder nicht. Begnüge ich mich mit der labordiagnostischen Erfassung der Zucker- und HbA1c-Werte, oder schau ich mir auch die Versorgung mit Thiamin, Riboflavin, Niacin und einigen Spurenelementen im Vollblut an? Die labordiagnostische Analyse dieser Parameter ist heute in jedem guten Medizinlabor abrufbar. Das praktische Problem ist, dass die Kassen die Kosten für diese Analysen nicht tragen.

JEM Wann ist eine ärztliche Diagnose anzuraten?

Mag. Fuchs Prinzipiell bei jeder Erkrankung, die als solche wahrgenommen wird. Die Kernfrage stellt sich vermutlich nicht so sehr nach der Diagnose, sondern nach der Therapie. Um beim soeben angeführten Beispiel des Typ II-Diabetes zu bleiben: Viele PatientInnen bekommen eine fachkundige Diagnose. Danach stellt sich aber die Frage, ob der befundete Diabetes auch als nutriologisch bedingt eingestuft wird oder nicht. Wenn nicht, beschränkt sich die Therapie auf die Applikation eines oralen Antidiabetikums. Wenn ja, wird die Ärztin vermutlich auch B-Vitamine, Chrom, Zink und Mangan dazu verordnen.

JEM Wann ist eine Labordiagnostik erforderlich? Wann braucht sie nicht durchgeführt zu werden?

Mag. Fuchs Das liegt in der Entscheidung der behandelnden Ärztin. Sie wird entscheiden, ob die Anamnese und die klinischen Symptome alleine ausreichen, eine therapeutische Entscheidung zu treffen, oder nicht. Wir praktizieren das ja auch so im medizinischen Alltag: Mit der Erstellung eines Magnesium-und Kalium-Status bei pektanginösen Beschwerden, mit der Analyse des roten Blutbildes bei Eisenmangel-Symptomen, mit der laufenden Durchführung einer Blutgasanalyse bei Acidose-Gefahr in der Intensivstation, um einige Beispiele anzuführen. Anders ausgedrückt: Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, Vitamin- oder Mineralstoff-Defizite seien eine neue, eine andere Kategorie von Erkrankungen. Diese Defizite sind allgegenwärtig. Sie sind (Mit)Verursacher zahlreicher Beschwerden, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind. Wir sollten uns daher vielmehr die Frage stellen, warum wir in der labordiagnostischen Routine nur einige wenige Elektrolyte erfassen, nicht aber auch Vitamine und Spurenelemente. Es gibt keinen pathophysiologischen Mechanismus, der unserem Körper zwar Magnesium und Kalium entzieht, zugleich aber wasserlösliche Vitamine und Spurenelemente reabsorbiert. Eine erweiterte Mikronährstoff-Analyse würde uns sehr rasch vor Augen führen, wie schlecht es mittlerweile allgemein mit unserer Ernährung bestellt ist.

JEM Wie wird die Wirksamkeit orthomolekularer Präparate nachgewiesen?

Mag. Fuchs Durch Placebo-kontrollierte, randomisierte Doppelblindstudien, wie sie auch bei Pharmaka durchgeführt werden.

JEM Sie haben in einem Artikel geschrieben, dass Vitaminstudien nicht nach pharmakologischen Parametern anzusetzen sind. Warum nicht?

Mag. Fuchs Weil Vitamine, im Gegensatz zu Pharmaka, nicht pharmakologisch wirken. Pharmakologische Kriterien wie Resorption, Verteilung, Metabolisierung und Elimination sind nur bei körperfremden Wirkstoffen, also bei Pharmaka, messbar. Supplementiere ich dagegen 20 Milligramm Zink in einen bereits bestehenden Körperpool von 12.000 Milligramm, so sind die genannten pharmakologischen Parameter quantitativ praktisch nicht erfassbar, da sich das Zink sofort in der Anonymität des Körperpools verliert. Der wesentlichere Unterschied zum Pharmakon aber ist ein anderer: Der diagnostische Ansatz zur Supplementierung von Zink sollte nicht primär der Zink-Mangel sein, sondern die diagnostizierte Erkrankung, zum Beispiel der bereits erwähnte Typ II-Diabetes. In diesem Falle aber werde ich nicht Zink als Einzelsubstanz supplementieren, sondern als Teil eines Nährstoff-Komplexes zur physiologischen Unterstützung des Kohlenhydrat- und Zuckerstoffwechsels.

Der Großteil aller publizierten Vitaminstudien beschäftigt sich nur mit dem Einsatz einzelner Mikronährstoffe, so als wären diese Pharmaka. Was erwarten sich die Autoren solcher Studien? Die Stabilisierung des Immunsystems mit 500 Milligramm Vitamin C oder mit 100 Mikrogramm Selen? Der medizinische Ansatz, Vitamine wie Pharmaka einsetzen zu wollen, als Einzelsubstanz oder in Dreierkombination, möglichst in hoher Dosierung, spiegelt nur das Missverstehen der physiologischen Rolle von Mikronährstoffen wider. Vitamine sind die biologischen Hand-in-Handwerker unseres Stoffwechsels, aber keine Einzelkämpfer wie Pharmaka.

JEM Eisenhältige Präparate sind je nach Dosierung auch als Pharmaka registriert. Gibt es weitere in der orthomolekularen Medizin verwendete Substanzen, bei denen der Übergang von der biologischen zur pharmakologischen Wirkung quasi amtlich festgehalten ist? Oder welche, die Kandidaten dafür wären?

Mag. Fuchs Ob Nährstoff-Präparate als Arzneimittel oder Pharmaka eingestuft sind, ist nicht primär eine Frage der Dosierung, sondern der Indikation. Wird Magnesium zur Prävention kardiovaskulärer Beschwerden angeboten, ist es Arzneimittel, fällt die Auslobung weniger „indikativ“ aus, unterliegt es dem Lebensmittelgesetz.

JEM Wo sehen Sie die Zukunft der orthomolekularen Medizin? In neuen, optimal abgestimmten Kombinationen von Substanzen? …

Mag. Fuchs Ja, es wird sehr darauf ankommen, den physiologischen Charakter der Mikronährstoffe zu erkennen und die Therapien danach anzusetzen. 10 Milligramm Eisen, kombiniert mit B-Vitaminen, Kupfer und Vitamin C, werden vom Körper effizienter verwertet und verbessern den Eisenstatus nachhaltiger als 80 Milligramm Eisen in Monosubstanz.

JEM Was fasziniert Sie persönlich an der orthomolekularen Medizin?

Mag. Fuchs Der kausale Ansatz, die enorme Effizienz und Nachhaltigkeit. Und damit verbunden der praktizierte Anspruch „primum nil nocere“.

CONTRA

Wie so oft lassen sich die Argumente PRO und CONTRA eigentlich nicht so einfach gegenüberstellen, da einzelne Aspekte über verschiedene Ebenen und Bereiche reichen. Diese plakative Darstellungsweise wurde hier dennoch gewählt – im Bewusstsein dessen, dass die Diskussion noch nicht abgeschlossen und in einzelnen Aspekten weiter zu vertiefen ist. In der Folge also die wichtigsten derzeitigen Kritikpunkte an der Orthomolekularen Medizin.

Wissenschaftliche Basis und Wirkungsnachweise fehlen.

Eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Basis für das Konzept der orthomolekularen Medizin gibt es bis jetzt nicht. Zu einzelnen verwendeten Substanzen (Vitamine, Mineralstoffe usw.) liegen zwar sehr wohl zahlreiche kontrollierte wissenschaftliche Studien vor. Deren Ergebnisse lassen sich jedoch nicht direkt auf das Konzept der orthomolekularen Medizin umlegen. Nichtsdestoweniger werden diese Studien von Vertretern der orthomolekularen Medizin häufig als Beleg für die Richtigkeit dieses Ansatzes angeführt. Dabei werden wissenschaftliche Ergebnisse auf unwissenschaftliche Weise interpretiert, lautet der Vorwurf. Dass dabei auch noch sehr große Studien übersehen werden, die keinen Nutzen finden oder gar gegenteilige Effekte nachweisen, stört Kritiker besonders. Ebenso wie der Umstand, dass manche Befürworter der orthomolekularen Medizin anekdotische Evidenzen als „Beweise“ für die Wirksamkeit anführen. Freilich haben Kasuistiken und empirische Daten ihren Platz in der Bewertung therapeutischer Verfahren, aber man kann sich nicht darauf beschränken. In einer zeitgemäßen Medizin dürfen wissenschaftliche Wirkungsnachweise nicht fehlen. Für die orthomolekulare Medizin gilt dies ganz besonders, weil hier im Gegensatz zu anderen komplementärmedizinischen Methoden die Durchführung kontrollierter wissenschaftlicher Studien durchaus möglich ist.

Hierzulande besteht kein Vitaminmangel, Gesunde sind über eine adäquate Ernährung ausreichend versorgt.

Dieser häufig angeführte Kritikpunkt kann zumindest teilweise von den Vertretern der orthomolekularen Medizin entkräftet werden – so der Ansatz Gültigkeit besitzt. Denn Vitamine, Mineralstoffe u.a. sollen demzufolge ja nicht der Behebung von Mangelzuständen dienen, sondern wie oben angeführt gleichsam als Regulatoren eines aus der Balance geratenen Stoffwechsels. Allerdings werden Sinn und Nutzen orthomolekularer Präparate dann doch wieder häufig damit begründet, dass die Lebensmittel heute verarmt an Nährstoffen wären. Dafür fehlen aber Beweise, viel mehr hat z.B. die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) in einer Studie festgestellt, dass weder Obst noch Gemüse „verarmt“ an Vitaminen und Mineralstoffen ist. Eine ausgewogene Mischkost mit viel frischem, saisonalen Obst und Gemüse kann für Gesunde laut DGE die Versorgung mit Vitaminen, Spurenelementen und anderen Inhaltsstoffen sicherstellen. Dass es Bevölkerungsgruppen mit Mangelzuständen gibt, ist eine Tatsache, die auch im Rahmen der Schulmedizin diagnostiziert und behandelt werden – und es hier Nachholbedarf gibt, wird nicht bestritten.

Eine Überdosierung von Vitaminen und Spurenelementen kann sehr wohl schaden.

Nachdem orthomolekulare Präparate als Lebensmittel/Nahrungsergänzungsmittel klassifiziert sind, sind sie auch frei erhältlich und eine Einnahme ohne jede Beratung durch den Arzt möglich. Damit steht das Risiko von Überdosierungen tatsächlich im Raum, denn es gibt für alle einzelnen Vitamine – sowohl die fett- als auch die wasserlöslichen – und Mineralstoffe in hohen Dosierungen Gegenanzeigen und unerwünschte Wirkungen. Abgesehen davon können einige davon auch in Wechselwirkung mit Medikamenten treten, wobei diese zwar positiv ausfallen können, nicht selten aber negativ.

Die Diagnostik ist häufig unzureichend.

Da orthomolekulare Präparate meist ohne ärztliche Betreuung genommen werden, fehlt hier die Diagnostik völlig. Aber auch im Rahmen einer ärztlichen Behandlung kommt die Diagnostik häufig zu kurz. Freilich können die Kosten dadurch deutlich steigen, denn manche Analysen sind teuer und werden ebenso wenig von der Krankenkasse übernommen wie die Präparate selbst.

Resümee

Dass die Gabe von Vitaminen, Mineralstoffen u.a. in bestimmten Fällen, für bestimmte Patientengruppen und Indikationen von Nutzen sein kann, steht außer Zweifel. Für das Konzept der orthomolekularen Medizin liegen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin – z.B. Dosis-Wirkungs-Beziehung, kontrollierte wissenschaftliche Studien – derzeit jedoch keine ausreichenden Evidenzen vor. Kasuistiken und empirische Daten haben ihren Platz in der Bewertung medizinischer Verfahren, müssen in einer zeitgemäßen Medizin jedoch Seite an Seite mit evidenzbasierten Daten stehen. Alles in allem sind individuelle Patientenwünsche ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, dass bestimmte Begleitmaßnahmen die Compliance der Patienten für bestimmte Therapien deutlich erhöhen können. Dabei ist auf jeden Fall eine ärztliche Betreuung und Begleitung zu empfehlen.

Autor: K. Gruber; wissenschaftliche Beratung Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Marktl

Literatur bei den Verfassern