Seit Jahren dasselbe: Umfragen, Erhebungen und Statistiken melden weitere Anstiege bei Übergewicht und Adipositas. Ärzte warnen vor den gesundheitlichen Folgen. Ernährungsexperten, Mediziner und Gesundheitspolitiker bemühen sich, den Menschen Sinn und Nutzen einer ausgewogenen Energiebalance durch entsprechende Ernährung und Bewegung nahe zu bringen. Umsonst. Der Trend nach oben ist beim Körpergewicht ungebrochen, und das bei weitem nicht nur in den reichen Industrieländern, sondern weltweit.
„Mit der Empfehlung weniger zu essen und sich mehr zu bewegen, ist es nicht getan – die Problematik ist wesentlich komplexer, und das spiegelt sich auch im Themenspektrum unserer diesjährigen Tagung“, resümiert Prof. Andrea Hofbauer, Vorsitzende des Verbandes der Diaetologen Österreichs und Kongresspräsidentin. In dieselbe Richtung argumentiert Gesundheitsminister Alois Stöger, der anlässlich der Kongresseröffnung die Größe der gesundheitspolitischen Herausforderung betonte, die eine Wiederherstellung der Balance zwischen Energieaufnahme und –verbrauch darstelle. Damit brauche die gesellschaftliche Umsetzung auch entsprechend viel Zeit.
Mit einem „Kampf gegen die Kilos“ allein ist es bei der Adipositas also nicht getan. Einerseits leiden die Betroffenen ja nicht nur unter dem Gewicht an sich, sondern auch unter zahlreichen Folgeerkrankungen wie Diabetes oder einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einzelne Krebsarten. Die Lebensqualität wird auf vielfältige Art und Weise eingeschränkt. Die Behandlung erfordert nicht nur ein Zusammenspiel verschiedener Disziplinen wie ärztliche Betreuung, qualifizierte Ernährungstherapie, Unterstützung durch Psychologen, Sporttherapeuten und Trainer. Es kommt ganz entscheidend auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an, zu denen unter anderem der Zugang zu einem langfristigen extramuralen Angebot gehört (siehe Kasten). Das gilt ganz besonders für Kinder und Jugendliche. Und es braucht offenbar einen Paradigmenwechsel in zwei entscheidenden Punkten, wie Prof. Hofbauer betont.
Respekt und Empathie
Zum einen geht es darum, wie Therapeuten den Betroffenen gegenüber treten. „Die Situation der Betroffenen ist häufig von vielen belastenden Emotionen geprägt“, so Prof. Hofbauer, „da ist auch ein hohes Maß von Empathie von Betreuern gefordert.“ Die Behandlung der Adipositas fordert nicht nur den Betroffenen, sondern auch den Betreuern einiges ab. Dieser grundsätzliche Respekt impliziert auch die Anerkennung der Entscheidung mancher Betroffener, mit Übergewicht leben zu wollen, so bleiben zu wollen, wie man ist. Es wäre verfehlt, übergewichtige und adipöse Menschen ständig unter Druck setzen zu wollen, abzunehmen. Zwar sei eine „gesunde Adipositas“ – also das Vorliegen metabolischer, orthopädischer und psychischer Gesundheit – nur bei einer Minderheit anzutreffen, wie unter anderem Priv.-Doz. Dr. Daniel Weghuber von der Universitätsklinik für Kinderheilkunde in Salzburg betonte. Für adipöse Menschen mit einem günstigen metabolischen und psychologischen Risikoprofil könnte von aufwändigen, kostenintensiven und risikobehafteten Therapiemodalitäten wie längerfristige Reha-Aufenthalte oder bariatrisch-chirurgische Eingriffe zumindest bis auf weiteres abgesehen werden. Hingegen seien jene Menschen, und dabei vor allem Kinder, möglichst früh zu identifizieren, die ein ungünstiges kardiometabolisches und/oder psychologisches Risikoprofil aufweisen und von einer Intervention daher am meisten profitieren.
Quer- und Neudenken
Abgesehen von der Tatsache, dass Adipositas in einem beträchtlichen eine sozioökonomisches Phänomen ist und daher ihre Bekämpfung auch über diese Ebene stattfinden muss, sind noch nicht alle physiologischen/biochemischen Fragen in Zusammenhang mit ihrer Entstehung geklärt. Dies kann auch als Einladung zum „Querdenken“ gesehen werden, als Einladung, neue Ansätze auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen. So sorgte und sorgt der im Eröffnungsvortrag präsentierte Ansatz von Univ.-Prof. Dr. Achim Peters von der Universität zu Lübeck (D) für so manche intensiv geführte Diskussion. Nach der „Selfish-Brain“-Theorie sorgt das Gehirn immer zuerst für seine eigene Energieversorgung. Benötigt es, wie zum Beispiel in Stress-Situationen, vermehrt Energie, wird diese bei gestörter Energieverteilung nicht aus körpereigenen Speichern, sondern durch zusätzliche Nahrung zugeführt. Daraus folge eine Gewichtszunahme. Laut Prof. Peters kann die Selfish-Brain-Theorie zum Verständnis von Übergewicht beitragen. Neue Therapieformen beziehen den Stressabbau mit ein.
Brennpunkt OP
Im Schnitt werden in Österreich jeden Tag rund sieben bariatrische Operationen durchgeführt, deren Erfolg ganz wesentlich von zwei Faktoren abhängt – dem eisernen Willen der Patienten zu einer Veränderung ihres Lebensstils und einer State-of-the-art-Betreuung vor und nach der Operation. Die Defizite sind jedoch gravierend. An sich wären nach der OP regelmäßige Nachkontrollen durch den Arzt, durch Diätologen und eine Lebensstiländerung durch den Patienten obligatorisch, betont Univ.-Prof. Dr. Karl Miller, Vorstand der chirurgischen Abteilung am Krankenhaus Hallein (Salzburg) und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für adipositas- und metabolische Chirurgie. Weiters sollten unter andere Psychologen und Psychotherapeuten sowie Sportmediziner in die Nachbetreuung eingebunden sein.
„Die Probleme beginnen für die Patienten schon vor der Operation“, berichtet die Diätologin Birgit Lötsch vom Krankenhaus Rudolfstiftung in Wien. Die Erwartungshaltung, dass sich nach der Operation alle anderen Probleme wie von selbst lösen würden sei nicht selten anzutreffen und höchst trügerisch. Viele Betroffene würden nicht realisieren, dass sie ihre Ernährung infolge der Operation völlig umstellen müssten, Mangelerscheinungen durch Nahrungsergänzung vorbeugen und regelmäßige Nachkontrollen in Kauf nehmen müssen. Der Leidensdruck sei enorm, viele Menschen psychisch angeschlagen. In wenigen Krankenhäusern sei man in der Lage, den Betroffenen eine umfassende Vor- und Nachbetreuung bieten zu können. Meist seien die Kosten für psychologische und psychotherapeutische Betreuung sowie für diätologische Nachsorge von den Patienten selbst zu tragen, womit ein klares Beispiel für eine Zwei-Klassen-Medizin zu Lasten der Patienten gegeben sei.
Erste Schritte in der Welt der Forschung
Beim diesjährigen Kongress wurden unter dem Titel „FH Young Science“ erstmals Ergebnisse von Bachelorarbeiten junger Diätologen vorgestellt. Diese jungen Diätologen leisten quasi Pionierarbeit, denn die diätologische Forschung in Österreich steckt im Vergleich zu Ländern wie den USA, Kanada, Australien, Großbritannien oder den Niederlanden noch in den Kinderschuhen. Die Initialzündung hierzulande erfolgte im Jahr 2005, als die ersten Diätologen mit einer Ausbildung an Fachhochschulen begannen, die ja mit einem Bachelor of Science abschließt.
Autor: K. Gruber
SVA übernimmt Diaetologen-KostenSeit Jahren immer wieder gemachte Vorstöße des Verbandes der Diaetologen Österreichs, um im Interesse der (nicht nur adipösen) Patienten eine Ernährungstherapie „auf Krankenschein“ durchzusetzen, stießen die längste Zeit auf taube Ohren bei den Krankenkassen. Mit 1. März hat nun die Sozialversicherung der Gewerblichen Wirtschaft in Kooperation als erste Krankenversicherung Österreichs mit dem Verband der Diaetologen Österreichs diaetologische Leistungen in ihr Programm „SVA – IS(S)T – GESUND“ (www.fitzumehrerfolg.at) aufgenommen.
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